Die britische Schauspielerin erzählt im Interview von ihren familiären Wurzeln und warum ihr republikanisch gesinnter Vater trotzdem stolz auf den Adelstitel seiner Tochter gewesen wäre.

Hollywood - Als „The Queen“ wurde Helen Mirren mit dem Oscar ausgezeichnet, das britische Königshaus adelte sie für ihre Verdienste als einer der besten Schauspiel-Exporte, die Großbritannien zu bieten hat. Eine erstaunliche Karriere, die mit experimentellem Theater begann. Damals war die heute 71-Jährige noch eine junge Wilde, die sämtliche Konventionen ablehnte. In ihrem neuen Drama „Verborgene Schönheit“ (Start 19. Januar) ist sie an der Seite von Will Smith zu sehen. Zum Interview treffen wir uns im Herzen der Filmindustrie: einem schicken Hotel am Sunset Boulevard in West Hollywood.

 
Die Hauptfigur in Ihrem neuen Film schreibt nach dem Tod der Tochter Beschwerdebriefe an die Zeit, die Liebe und den Tod. Wem würden Sie aktuell schreiben, wenn Sie sich beschweren wollten?
Ich würde an die Zeit schreiben. Denn sie hat die größte Macht und den signifikantesten Einfluss auf mein Leben. Leider realisiert man das ja immer erst, wenn man älter wird.
Weil man in seiner Jugend scheinbar unendlich Zeit hat?
Genau. Es ist so schwierig zu begreifen, dass die Zeit endlich ist, wenn du jung bist. Ich denke heute viel mehr darüber nach, ob ich meine Zeit sinnvoll nutze oder verschwende. Man sagt ja immer so etwas unreflektiert: Wo ist nur die Zeit geblieben. Aber in meinem Alter mache ich mir jetzt ernsthaft Gedanken darüber. Warum kommt mir eine Stunde manchmal lang und dann wieder sehr kurz vor?
Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?
Wenn etwas Spaß macht oder interessant ist, vergeht die Zeit immer viel zu schnell. Ich hätte definitiv gerne mehr davon, soviel steht fest. Und da ist dieser eine Satz im Film: Der Tod verleiht der Zeit erst ihre ganze Bedeutung. Das ist leider sehr wahr. Ich habe in meinem Umfeld erlebt, wie eine schwere Krankheit plötzlich jeden zusätzlichen Tag zum Geschenk werden lässt.
Sie spielen in dieser Geschichte den Tod. Was ging Ihnen als erstes durch Kopf, als man Ihnen diese Rolle angeboten hat?
Also, um ganz präzise zu sein, ich spiele eine Schauspielerin, die den Tod spielen soll. Diese Frau ist so versessen darauf, überhaupt etwas zu spielen, dass sie diese Herausforderung natürlich völlig faszinierend findet. Sie arbeitet ja eigentlich an einem sehr kleinen, halbprofessionellen Theater, ist aber mit ganzer Leidenschaft dabei.
Kommt Ihnen diese bedingungslose Leidenschaft bekannt vor?
Oh ja. Ich kenne diese Frau. Denn wenn mein Leben etwas anders verlaufen wäre, hätte ich so werden können wie sie. Ich bin in den frühen Siebzigerjahren nach New York gekommen und habe sogenanntes esoterisches Theater gemacht. In Brooklyn haben wir regelmäßig auf der Straße gespielt. Da war Brooklyn allerdings noch nicht so gentrifiziert und schick wie heute. Wir haben auch in New Jersey in einigen wirklich üblen Vierteln auf der Straße gespielt.
Wie haben die Passanten dort auf „esoterisches Theater“ reagiert?
Häufig sind wir verprügelt worden. Wenn ich nicht das Glück gehabt hätte, irgendwann Erfolg zu haben, dann wäre ich wahrscheinlich immer noch auf der Straße unterwegs und würde versuchen, an kleinen Theatern zu überleben. Das ist sogar gar nicht so unwahrscheinlich. Ich konnte mich deswegen sehr gut mit dieser Rolle identifizieren.
Wie spielt man den Tod?
Das war die entscheidende Frage. Und wie soll der Tod überhaupt aussehen? So banal es klingt, ich habe erst einmal Bilder des Todes gegoogelt. Ich habe einfach „Tod“ in das Suchfenster eingegeben und dann auf „Bilder“ geklickt.
Sie wirken aber wie ein sehr freundlicher Tod.
Mir war ziemlich schnell klar, dass ich nicht wie der typische Tod aussehen will, in schwarzer Kleidung mit Umhang, Schlapphut oder schwarzen Handschuhen. Ironischerweise dachte ich: der Tod muss irgendwie lebendiger wirken. In bestimmten südamerikanischen Indianer-Kulturen wird der Tod als blauer Vogel dargestellt. Das fand ich schön. Blau ist eine wunderschöne Farbe. Für mich repräsentiert sie Unendlichkeit, die unendliche Weite des Himmels. Sie hat etwas sehr Spirituelles. Deswegen trage ich blau.
Die Moral von der Geschichte ist, dass wir das Leben erst wirklich zu schätzen wissen, wenn es endet. Konzentrieren wir uns zu sehr auf die negativen Aspekte des Lebens?
Sie meinen politisch? Ich glaube, das ist nicht typisch für unsere Zeit. Dieses Phänomen existiert schon sehr viel länger. Denken Sie nur an die Zeit des Zweiten Weltkriegs. Das war eine vollkommen finstere Zeit. Das erstaunliche ist nur, dass wir als Menschheit nie wirklich daraus lernen. Oder besser gesagt: es bleibt ein permanenter Lernprozess. Wir kommen am Ende nie zu einem irgendwie verwertbaren Ergebnis. Ich versuche immer, dass Licht in der Dunkelheit zu finden. Das ist auch das Spannende an meinem Beruf, in Rollen zu erfahren, wozu der Mensch auch in den verzweifeltsten Stunden im Stande ist. Auch unter den schlimmsten Umständen, haben wir diese Fähigkeit humanistisch zu handeln, Verbindungen zu anderen Menschen herzustellen. Der Mensch hat eigentlich eine schöne Seele. Ich hoffe, das klingt jetzt nicht zu abgedreht.
Ich kann Ihnen noch folgen.
Im Kino oder im Theater werden wir im besten Falle an diese Schönheit erinnert, werden uns ihrer bewusst. Das finde ich inspirierend. Wir sollten uns dieser Fähigkeit bewusster sein.
Sind Sie religiös?
Überhaupt nicht. Aber das ist ja auch das Gute an unserem Film. Religiöse Menschen können darin ihre Geschichte finden. Und Menschen wie ich finden ihre Inspiration.
Was nehmen Sie aus so einer Rolle anschließend mit?
Ich bin keine „Method Actress“, also ich lebe meine Rollen nicht. Ich nehme sie nie mit nach Hause. Ich mache mir Gedanken darüber, sie so gut wie möglich zu spielen, wenn ich damit beschäftigt bin. Aber dann hake ich sie auch irgendwann ab. Das muss ich auch. Die meisten Projekte sind ja heutzutage doch sehr düster. Wenn ich den Fernseher anschalte, sehe ich Menschen, die sich gegenseitig aufessen. Es ist gruselig. Haben Sie mal überlegt, wie viele Menschen pro Woche im Fernsehen auf grausamste Weise umgebracht werden? Man sollte mal eine Statistik erstellen.
Prinz Charles hat Sie in den Adelsstand erhoben. Das passt eigentlich gar nicht zu Ihnen.
Ich habe lange darüber nachgedacht. Ich habe vorher lange mit meiner Schwester und guten Freunden darüber gesprochen. Denn ich fühlte mich eigenartig ambivalent. Alle sagten, ich solle es annehmen. Als meine Schwester zustimmte, hatte ich meine Entscheidung getroffen. Wenn sie dagegen gewesen wäre, hätte ich es abgelehnt. Meine Eltern waren zu diesem Zeitpunkt leider bereits beide tot. Aber ich bin mir sicher, wenn mein Vater es noch erlebt hätte, wäre er in seiner republikanischen Brust unglaublich stolz gewesen. Mein Vater war ein russischer Emigrant, ein politischer Flüchtling. Er hat in seiner Jugend sehr darunter gelitten, ein Fremder in einer fremden Kultur zu ein. Es hätte ihn stolz gemacht, dass seine Tochter in den britischen Adelsstand erhoben wird.
In welchen Momenten spüren Sie Ihre russische Seele?
Meine Schwester und ich sprechen immer über unsere „russischen Momente“. Es ist natürlich ein Klischee, aber Melancholie kann man leicht auf unsere russische Seite einordnen. Ich finde es aber auch sehr russisch, abends um einen Tisch herumzusitzen und leidenschaftlich zu diskutieren. Bei uns Zuhause gab es keinen Fernseher. Wir saßen immer zusammen und redeten uns über alles mögliche die Köpfe heiß. Über Kunst, über Politik, den Sinn des Lebens. Gibt es eine Seele, oder gibt es keine?
Und gibt es eine Seele?
Ich schwanke immer noch. Manchmal glaube ich daran und dann finde ich einen brillanten Grund für diese Theorie. Aber es gibt auch diese Tage, an denen ich diese Idee wieder verwerfe. Das ist noch Stoff für viele Diskussionen.