Ein Buch entlarvt den Mythos von Henri Nannens „Stern“-Gründung als Legende: Eine Zeitschrift gleichen Namens war schon vor dem Krieg auf dem Markt.

Stuttgart - Zum vierzigjährigen Bestehen des „Stern“ 1988 schrieb der ehemalige Chefredakteur Henri Nannen, „wie es wirklich war“ bei der Gründung des Magazins und erzählte, wie er britische Besatzer dazu brachte, seine Lizenz für die Jugendzeitschrift „Zick-Zack“ unter dem neuen Namen „Stern“ für Erwachsene zu nutzen. Es klang, als sei ihm der Name spontan eingefallen. Allerdings holte er über Nacht ein fertiges Konzept aus der Schublade. Wie kam er dazu?

 

Ein neues Buch gibt darüber Aufschluss. Es stammt von Tim Tolsdorff und heißt „Von der Stern-Schnuppe zum Fix-Stern. Zwei deutsche Illustrierte und ihre gemeinsame Geschichte vor und nach 1945“ (Halem Verlag). Das 500-Seiten-Werk hat eine Vorgeschichte: Im August 1998 las der ehemalige Direktor des Dithmarscher Landesmuseums, Wolf-Dieter Könenkamp, eine Vorankündigung zur Fünfzig-Jahr-Feier der Illustrierten von Gruner + Jahr. Deshalb informierte er die Redaktion über einen Fund aus einem Nachlass. Als keine Antwort kam, insistierte er Wochen später: „Da von Ihrer Seite bisher mit keinem Wort auf die Existenz des Vorkriegs-‚Stern‘ eingegangen worden ist, sondern stets nur von H. Nannens Idee vor 50 Jahren gesprochen wird, möchte ich Ihre Selbstgewissheit mit beiliegender Titelkopie (April-Ausgabe 1939) etwas erschüttern.“

Es sei unvorstellbar, dass Nannen den Vorläufer nicht kannte. Die Ähnlichkeiten in Inhalt und Aufmachung sprächen für das Gegenteil.
 Auch sei das Heft mit einer Auflage von 750 000 Exemplaren zu bekannt gewesen. Da der „Stern“ erstmals am 20. September 1938 erschien, dürfe das Magazin nun den sechzigsten Geburtstag feiern. Die Redaktion fand diese Pointe nicht lustig.

Eine Antwort, die tief blicken lässt

Dem guten Rat, den Gründungsmythos zu relativieren, konnte die Redaktion nichts abgewinnen. Stattdessen antwortete ein leitender Redakteur trocken: „Ihre Erinnerung trügt Sie nicht. Tatsächlich gab es schon einmal ein Kino- und Filmblättchen mit dem Namen ‚Stern’. Es erschien nur einige Jahre im Ullstein-Verlag und hat mit dem Nachkriegs-,Stern’ nichts zu tun.“

Filmblättchen? Mit einander nichts zu tun? Aus heutiger Sicht war diese Antwort nicht sehr weise. Weil sie tief blicken lässt in das fehlende Geschichtsverständnis des Magazins, veröffentlichte ein Hamburger Mediendienst diesen Briefwechsel Anfang des Jahres. Einer der Autoren war Kurt Otto, ein ehemaliger Sprecher von Gruner + Jahr, der sich offenbar heute mehr denn je ärgert über diese Reaktion des eigenen Hauses von damals. Es war auch eine Reaktion auf einen Artikel des Medienwissenschaftlers Tim Tolsdorff über die „braunen Wurzeln des ,Stern’“ in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Und dieser Artikel war wiederum ein Vorbericht einer umfangreichen wissenschaftlichen Arbeit – sie ist es, die nun in Buchform erschienen ist.

Das Buch setzt den „Stern“ unter Druck, eine bessere Erklärung als 1998 zu finden, will das Magazin glaubwürdig über Geschichte schreiben. Vielleicht bedauert man nun in Hamburg, dass man seit 1998 noch weitere Gelegenheiten verstreichen ließ, Nannens Legende zu relativieren. Im Jahr 2000 berichtete Nils Minkmar in der „Zeit“ ausführlich über die Parallelen; zwei Jahre später vertiefte er die Recherchen in einem Buchbeitrag. Der „Stern“ und Gruner + Jahr schwiegen weiter, auch als Tolsdorff im Dezember 2013 in der FAZ nachlegte.

Tolsdorffs Verdienst ist es, diese Lücke zu füllen und die Kontinuität zwischen dem Vor- und Nachkriegs- „Stern“ deutlicher herauszuarbeiten. Dabei half ihm, dass er den Vorkriegs-„Stern“ bereits in seiner Magisterarbeit analysierte; er zeigt, wie sehr sich beide Illustrierte in Aussehen, Darstellungsformen, Inhalten, Herangehensweise bis hin zu Rubriken gleichen. Vor allem aber half ihm, dass er den Nachlass von Karl Beckmeier, des ehemaligen Stellvertreters Henri Nannens, in den Anfangsjahren auswerten konnte. Ein Glücksfall, da Gruner + Jahr sowie die Erben des 1996 verstorbenen Nannen den Zugang zum Archiv und zum Nachlass verweigerten.

G+J-Chefin Julia Jäkel will nichts verklären

Anhand der Unterlagen fand Tolsdorff Kontinuitäten beim leitenden Personal. Beckmeier selbst arbeitete bereits beim arisierten Ullstein-Verlag des Vorkriegs- „Stern“. Als Nannen mit Beckmeier zerstritten war, heuerte er mit Kurt Zentner den ehemaligen Chefredakteur des Vorkriegs-„Stern“ an, damit er sein Magazin leitete. Was lag näher als den Mann damit zu betrauen, der das Original produziert hatte? Nannens Ideengeber sei der Verlagsleiter Carl Jödicke gewesen. Da der Spezialist für Markenrecht ebenfalls für den Verlag des Vorkriegs-„Stern“ arbeitete, wusste er genau, dass die Markenrechte des alten „Sterns“ nicht eingetragen waren und es von daher rechtlich ungefährlich war, 1948 darauf zurück zu greifen. Zentner und Jödicke waren NSDAP-Parteimitglieder.

Wie gehen „Stern“ und G+J jetzt damit um? Immerhin hatte Nannens Enkelin in einer Biografie den Vorläufer 2013 zur Kenntnis genommen. „Die Arbeit von Tim Tolsdorff ist beeindruckend“, sagt der Herausgeber des „Stern“, Andreas Petzold, und deutet erstmals die Abkehr von der Position von 1998 an, ohne das direkt so auszusprechen. „Die Ähnlichkeiten zwischen dem ,Stern’ von 1938 und dem ,Stern’ von 1948 sind offensichtlich. Es liegt nahe, dass sich Henri Nannen am ,Stern’ von Kurt Zentner orientiert hat. Jeder möge seine eigenen Rückschlüsse ziehen. Dass es einen offensichtlichen Zusammenhang zwischen den beiden ,Stern’-Varianten gab, auch personell, ist aber nicht neu. Das Archiv von Gruner + Jahr besitzt leider keine Unterlagen des damaligen Henri Nannen Verlags, die die Gründung betreffen, und kann deshalb zur Klärung nichts beitragen.“

Neu ist immerhin, dass der „Stern“ den offensichtlichen Zusammenhang offiziell zur Kenntnis nimmt. Bleibt die Frage, ob er ihn auch im Heft aufgreifen wird. Petzold sagt nach Absprache mit der G+J-Vorstandsvorsitzenden Julia Jäkel und dem neuen Chefredakteur Christian Krug: „Wir werden Tim Tolsdorff für ein ,Stern’-Gespräch anfragen.“ Julia Jäkel bekräftigt: „Es gibt nun wirklich überhaupt keinen Grund, diese Erkenntnisse unter den Teppich zu kehren. Als Historikerin wäre mir das sowieso unvorstellbar. Insofern sind wir sehr daran interessiert, zu erfahren, wie es wirklich war. Wir romantisieren und verklären nicht, sondern haben ein Interesse an der Wahrheit.“