Die Kinderbetreuung läuft einigermaßen, doch pflegende Angehörige stehen häufig noch auf verlorenem Posten – vor allem wenn sie berufstätig sind. Ein erster Kongress in Baden-Württemberg zeigt, dass viele Fragen offen sind.

Stuttgart - Jeder zweite Mann und zwei von drei Frauen brauchen einmal Pflege. Noch steht das Thema pflegende Angehörige in den Betrieben im Schatten der Kinderbetreuung. Doch in 15 Jahren wird es den statistischen Prognosen zufolge hierzulande mehr Menschen mit Pflegebedarf geben als Kinder im Kindergarten. Angesichts der demografischen Entwicklung müssten künftig immer mehr Menschen ihren Beruf und die Pflege ihrer Angehörigen vereinbaren, schrieb die Arbeits- und Sozialministerin Katrin Altpeter (SPD) den Betrieben ins Stammbuch. Wie Unternehmen pflegende Angehörige unterstützen könnten, war deshalb Thema der „Netzwerkkonferenz Beruf und Pflege“ in Stuttgart.

 

Nur wenige Wirtschaftsvertreter

Das Interesse war groß am ersten Kongress dieser Art im Land. Unter den 200 Teilnehmern fanden sich jedoch nur eine Handvoll Wirtschaftsverbände und Firmenvertreter. Altpeter will das Thema in den Mittelpunkt der Gesellschaft rücken und erwartet so für die Pflege den gleichen „drive“, wie ihn die Kinderbetreuung erfahren habe Für sie ist klar: „Berufstätige dürfen keine Nachteile durch die Pflege haben“. Flexibilität entwickelte sich zum Zauberwort des Kongresses. Altpeter sieht viele Möglichkeiten, wie Unternehmen ihre Beschäftigten unterstützten könnten: Gleitzeit, kurzfristig eingereichte Teilzeit, weil der Pflegefall häufig plötzlich eintritt, oder die Befreiung von Kernarbeitszeiten.

So etwas gehört in Betriebsvereinbarungen, finden sie im Publikum. Das wäre eine Sache der Tarifpartner. Das Walldorfer Softwareunternehmen SAP setzt bereits auf Flexibilität. „Ad hoc Freistellungen und Homeoffice , diese Zugeständnisse sollten die Unternehmen schon machen“, findet Nadja Alber, die Leiterin des Bereichs „Family und carreer“ bei SAP. Andererseits rät sie Angestellten, schon früh für den Fall der Fälle auf Arbeitszeitkonten anzusparen. Allerdings, das weiß Alber aus Erfahrung, pflegen Akademiker meist nicht selbst und die zunehmende Mobilität in der Arbeitswelt macht die Pflege von Angehörigen oft unmöglich.

Ein Dorf für die Pflege

Also muss die Pflege aus der Ferne organisiert werden. SAP hat eigene Servicehotlines eingerichtet, mit denen das Nötige geklärt werden kann. Kleine Betreibe können das meist nicht leisten. Da liegt die Zukunft in der Kooperation. Im Landratsamt Breisgau-Hochschwarzwald hat die Wirtschaftsförderung zusammen mit der Altenhilfe ein „Team Familie“ gegründet und ein Bündnis für Familienfreundlichkeit geknüpft. Man setzt stark auf Dezentralität. Wie es für die Erziehung eines Kindes ein ganzes Dorf brauche, brauche es auch für die Pflege ein ganzes Dorf, findet Annette Herlt, die die Wirtschaftsförderung verantwortet. Vorträge bei Betrieben und im Gewerbeverein sollen für die Sache sensibilisieren und gute betriebliche Beispiele verbreiten helfen.

Wie die Betriebe sollen auch die Helfer möglichst flexibel sein – und bezahlbar dazu. Das macht das Ehrenamt zu einem wesentlichen Faktor der Pflege. Da schüttelt das sachkundige Publikum prompt den Kopf. Auch Altpeter machte Einschränkungen: Professionelle Unterstützung und Anleitung seien unabdingbar. Und am Ende gehe es ums Geld: „Pflege ist nicht umsonst zu haben“, sagte die Ministerin unter dem Beifall der Zuhörer. „Sie ist nicht als eine good will-tour zu organisieren.“ Immer mehr Anforderungen an die Pflege erfordere immer mehr Professionalität, betonte die Ministerin. Sie findet, die Einnahmen für die Pflege müssten erhöht werden. Weiter geht Irene Gerlach, die Leiterin des Forschungszentrums Familienbewusste Personalpolitik in Münster, Berlin und Bochum. „Ein mutiger Schritt wäre eine zusätzliche Sozialversicherung“, sagte die Professorin für Politikwissenschaft. Denn, „das Hauptproblem der Pflege ist die Zeit“.

Doch mit Hilfen für pflegende Angehörige ist es nicht getan. „Pflege geht bald nicht mehr durch Angehörige“, sagt Altpeter, von Haus aus Lehrerin für Pflegeberufe. Die Ministerin sieht in der Professionalisierung „eine der Hauptaufgaben der Sozialpolitik“. Jedoch ist der Mangel an Fachkräften ein weiteres der vielen ungelösten Probleme im Pflegesektor.

Altersentwicklung

In Baden-Württemberg gab es im Jahr 2010 rund 246 000 Menschen, die 85 Jahre und älter waren. 2020 werden das laut Statistischem Landesamt 327 000 sein, im Jahr 2030 wird mit 424 000 hochbetagten Bürgern gerechnet.

Im Jahr 2011 waren bundesweit 2,5 Millionen Menschen in Pflegestufen eingruppiert. Experten gehen davon aus, dass weitere drei Millionen Menschen Hilfe im Alltag benötigten. In Baden-Württemberg zählten die Statistiker im Jahr 2011 etwas mehr als 278 000 Menschen mit Pflegebedarf. Bis 2030 ist mit einem Zuwachs von 54 Prozent zu rechnen. Damit liegt der Südwesten etwa in der Mitte der Bundesländer.

Zwei Drittel der Pflegebedürftigen leben zu Hause. In Baden-Württemberg werden 48 Prozent überwiegend von ihren Angehörigen betreut, 21 Prozent zu Hause von Pflegediensten. Von den pflegenden Angehörigen sind 73 Prozent Frauen. Die meisten Pflegenden sind schon aus dem Berufsleben ausgeschieden. Doch 40 Prozent sind im erwerbsfähigen Alter. Von diesen jüngeren pflegenden Angehörigen arbeitet die Hälfte Vollzeit.