Hermann Hesse galt in seiner Jugend als Psychisch gestört. Wie hat den Schriftsteller diese Zeit geprägt?

Calw/Maulbronn - Am 4. Mai 1892 erhält Hermann Hesses Mutter, Marie Hesse, einen Brief von ihrem Bruder. Als sie liest, durchfährt sie kalter Schrecken: Es sei ihm zugetragen worden, so der Bruder, dass Hermann im Maulbronner Seminar einem Mitschüler mehrfach gesagt habe, er werde ihn umbringen, und tatsächlich auf ihn losgegangen sei – glücklicherweise mit glimpflichem Ausgang. Hermann habe danach von einem Schmerz im Kopf gesprochen, der nur geheilt werden könne, wenn er einen Menschen umbringe.

 

Ist Hermann nun vollends verrückt? Marie Hesse erwehrt sich des Gedankens, aber es fällt ihr schwer, zu viel ist in der letzten Zeit zusammengekommen: seine Überreiztheit, das dauernde Kopfweh, die verstiegenen Dichterpläne.

Schon früh fällt den Eltern auf, dass es mit dem Knaben etwas Besonderes auf sich hat. „Hermännle“ entwickle sich rasch, sei sehr klug, „aber sein Eigensinn und Trotz ist oft geradezu großartig“, notiert die Mutter über den Zweijährigen ins Tagebuch. Als Hermann heranwächst, macht er „viel Not und Mühe“, so dass die Eltern aufatmen, als er mit vierzehn einen Freiplatz im Evangelischen Seminar Maulbronn erringt, einer schwäbischen Eliteschule für die künftigen Geistlichen und Gelehrten – mit so berühmten Absolventen wie Johannes Kepler und Friedrich Hölderlin.

Hermann haut aus dem Seminar ab

Als der jugendliche Hermann Hesse in „das herrliche, weltfern gelegene, hinter Hügeln und Wäldern verborgene Kloster einzieht“ – so schreibt Hesse 14 Jahre später in seiner Erzählung „Unterm Rad“ –, ist seinen frommen Pietisteneltern bang, wie ihr „Trutzkopf“ sich in der strengen Paukschule halten werde. Umso mehr freuen sie sich, als er wohlgemute Briefe schickt: „Ich bin froh, vergnügt, zufrieden! Es herrscht im Seminar ein Ton, der mich sehr anspricht.“

So trifft seine Eltern das Kommende völlig unvorbereitet: „Um 5 Uhr kommt der Postmann und ruft vor der Stubentür laut: ‚Ein Telegramm!‘ Ich eile hinaus“, notiert die Mutter am 7. März 1892, nach fünf Schulmonaten. Sie ist auf die Meldung vom Ableben des Schwiegervaters gefasst. „Doch nein, es ist aus Maulbronn: ‚Hermann fehlt seit zwei Uhr. Bitte um etwaige Auskunft.‘ Welcher Schrecken!“

Spätabends kommt ein weiteres Telegramm: „Alle Schritte getan, bis jetzt ohne Erfolg.“ Man hat auf dem Bahnhof nachgeforscht, die umliegenden Wälder abgesucht, die Behörden eingeschaltet. Eile tut Not, es ist klirrend kalt, der Bub könnte erfrieren. Für die Mutter wird es eine „Schmerzensnacht“. Anderntags die Erlösung: „Hermann wohlbehalten zurück.“ Ein Landjäger hat ihn auf freiem Feld aufgegriffen, starr vor Kälte: Leicht bekleidet hat er die Frostnacht in einem Strohhaufen durchzittert.

Kopfbrennen, Schlaflosigkeit, Depression

Die Erleichterung der Eltern währt nur kurz, dafür sorgt das Ermittlungsergebnis der Schulleitung: Der 14-jährige Hermann zeige öfters Zustände größter Erregung, sei erfüllt von überspannten Gedanken und Gefühlen, gefährde den Seelenfrieden seiner Mitschüler; ein Verbleiben im Seminar sei daher nicht wünschenswert.

Hermann Hesse fühlt sich danach wie ein Aussätziger. Selbst sein bester Freund sagt sich von ihm los. Dafür heften sich unwillkommene Begleiter an ihn: Kopfbrennen, Schlaflosigkeit, Depressionen. Die Karzerstrafe bei Wasser und Brot sitzt er scheinbar gleichmütig ab.

Dann ein Signal, dass die inneren Spannungen gefährlich anwachsen: Er spricht im Brief die Eltern plötzlich mit „Sie“ an, als wären sie Fremde. Am nächsten Tag der Angriff auf den Mitschüler: das Ende des Seminaristen Hesse und aller in ihn gesetzten Hoffnungen – viel Leid und Tränen bei den Eltern wie ihm selbst.

Wellness-Kur in Bad Boll

Bad Boll, nahe Kirchheim unter Teck idyllisch am Albtrauf gelegen, ist seinerzeit ein christliches Kur- und Heilzentrum (und somit Vorläufer der heutigen Evangelischen Akademie). Die gut vernetzten Missionarsleute Hesse sind mit dem Leiter bekannt, Pfarrer Christoph Blumhardt, der sich des Sorgenkindes Hermann anzunehmen verspricht. Die Mutter notiert nach seiner Einlieferung: „Tag und Nacht muß ich denken: Was treibt H. jetzt?“

„Herr Pfarrer gefällt mir außerordentlich“, schreibt Hermann. Neulich habe Blumhardt die scheinheiligen Sonntagschristen gegeißelt: „Nix ischs, der ganze Lumpenpack hat von einem Christus aber auch von Moral keinen Geschmack.“ Blumhardt erkennt, dass Hermanns Seele bis zum Zerspringen unter Arbeits- und Erfolgsdruck steht. Die Therapie: Entspannung. „Meine Zeit“, so Hermann, „teilt sich in Billard, Kegeln, Spaziergehen, Schlafen . . . vor dem Bett gehen einen Schluck Bier.“

Was werden seine schwäbischen, asketischen Pietisteneltern davon halten, die die Wellnesskur auch noch bezahlen müssen? Der Gedanke treibt Hermann um: „Hier ist mir’s drückend zu wissen, dass ich ohne Nutzen, ohne Arbeit ein heilendes angenehmes Leben führe auf Eure Kosten.“ Fortschritte stellen sich auch nicht ein: Nach sechs Wochen sind Kopfweh und Schlaflosigkeit so schlimm wie vorher.

Die Sache mit dem Revolver

Dann ein Brief Blumhardts an die Mutter: „Liebe Frau Missionar! Heute lief uns Ihr Sohn weg unter Hinterlassung von Selbstmorddrohungen . . .“ Mit geborgtem Geld habe er sich einen Revolver gekauft, sei aber jetzt wieder zurück. Die Mutter möge dringend kommen. Blumhardt ist außer sich: Ein Selbstmord eines seiner Patienten – nicht auszudenken! Der Junge müsse schnellstens in eine Irrenanstalt, verkündet er der herbeigeeilten Mutter und predigt ihr noch, dass alles von schlechter Erziehung käme. Freundlicher sein Brief an den Vater, mit der Anrede „Lieber Bruder“: Er hoffe, dass Hermann sich später normalisiere. „Der eigentliche Verstand ist bei ihm unentwickelt. Der kann aber nachkommen.“ Unentwickelt ist zweifellos Hermann Hesses Sinn für die Wirklichkeit, und er bleibt es, in vollster Absicht: Die Realität sei schäbig und nur „der Abfall des Lebens“, man müsse sie überwinden, „indem wir sie leugnen, indem wir zeigen, dass wir stärker sind als sie“.

Das ist antiautoritäre Normverachtung und Rebellentum, Hermann Hesses späterer Roman „Steppenwolf“ klingt schon durch und die gleichnamige US-Rockband mit ihrer Hymne „Born to be wild“ – und die um die Welt brandende Hesse-Welle, die ihn zu einem der meistgelesenen Dichter deutscher Sprache macht.

Anstalt Stetten im Remstal: als Her-mann Hesse mit seiner Mutter durch das Tor tritt, ruft er: „In das Gefängnis wollt ihr mich sperren? Lieber spring ich in den Brunnen dort!“ (Den Brunnen gibt es heute noch, ebenso das von Weinbergen umgebene einstige Schloss der Herzöge von Württemberg – heute eine frei zugängliche Behinderteneinrichtung der Diakonie.) Nach einem kurzen Gespräch mit dem Anstaltsleiter Pfarrer Gottlob Adam Schall ist Hermann dann doch zum Bleiben bereit. Die Mutter reist heim nach Calw, wie sie schreibt, „an Leib und Seele zerschlagen“.

„Hermann leidet am Größenwahn“

Die Diagnose des Anstaltsarzts zum Patienten Hermann Hesse lautet : „Schwer zu behandeln; leidet an Größenwahn, fühlt sich zu Großem berufen, träumt von großen dichterischen Erfolgen.“ Tatsächlich will er „Dichter oder gar nichts“ werden – eine Kriegserklärung an die schaffige Umwelt. Pfarrer Gottlob Adam Schall gibt den Verirrten nicht verloren, lässt ihn im Garten arbeiten und auch als Hilfslehrer der Behinderten. Hermann stehe vor der Entlassung, schreibt er den Eltern nach einem Monat, und fügt hinzu: „Ob zu seinen Verirrungen nicht auch das Romanlesen beigetragen hat, wobei er in eine ganz andere Welt versetzt wurde? Er hat eine ziemliche Lesewut.“

Auch Iwan Turgenjews Roman „Rauch“ gehört zu seiner Lektüre: die Geschichte einer besinnungslosen Liebe. Und mit dem Brief einer jungen Dame an Hermann schließt sich die Indizienkette: „Ich bitte Sie, lieber Herr Hesse, inständig, vergessen Sie . . . wenn es auch bitter ist, eine Enttäuschung in Herzensangelegenheiten zu erleben – so war es doch am besten für Sie.“ Hesse hatte sich während der Bad-Boll-Zeit in die sieben Jahre ältere Eugenie Kolb verliebt: Als seine Gefühle unerwidert bleiben, steigert er sich in Liebeswahn – er kannte die Symptome aus Turgenjews „Rauch“. Zum Revolver fehlt dann nicht mehr viel.

Eugenie Kolb appelliert an seine Selbstbeherrschung, bietet ihm Kameradschaft an, will seine Gedichte sehen, kurz: nimmt den jungen Hermann Hesse ernst, führt ihn wieder ins Leben – bestimmt auch ein Grund, warum Pfarrer Schall seinen Schützling auf gutem Weg sieht.

Dauerstreit um die Dichterpläne

Am 5. August 1892 holt der Vater den sehnsüchtig Wartenden ab. Statt erholsamer Ferien aber schwirrt es daheim vor Besuchern, „tagtäglich war`s bei uns wie ein Taubenschlag, Hermann war entsetzlich aufgeregt und gereizt, trutzte und schimpfte“, so die Mutter. Dazu kommt der Dauerstreit über seine Dichterpläne und seine Rebellion gegen das strenge Pietistentum der Eltern, das pausenloses Gutsein verlangt „ohne Makel und Fehl, wie die Statue, aber ebenso tot“, wie er ihnen entgegenschleudert, und in seiner Not herausschreit: „Ihr seid Christen, und ich – nur ein Mensch.“

Dann der Eklat: dem Vater gehen die Nerven durch, am 22. August verfrachtet er Hermann wieder zurück nach Stetten. „Furchtbare Erbitterung bei H. gegen uns“, schreibt die Mutter. Hermann Hesses an diesem Unglückstag verfasstes Gedicht ist eine wütend-sarkastische Klage: Leb wohl, du altes Elternhaus, Ihr werft mit Schande mich hinaus, Ade, ihr Lieben (?) groß und klein, Von neuem bin ich jetzt allein!

Nach einer Trotzpause schickt er Briefe nach Hause, in denen sich Provokation und Hilfeschrei verbinden: „Laßt mich hier draufgehen, den tollen Hund, oder seid meine Eltern!“ Sehnsucht nach Elternliebe scheint überall durch, wie der Urgrund aller Verstörung. Mutter und Vater haben sich ganz dem Missionsdienst verschrieben, der Rettung Verlorener: Für die sechs Kinder bleibt da nur Restzuwendung. Von klein auf kämpft Hermann um Mutterliebe. Noch der 15-Jährige bettelt: „Arme, liebe Mutter . . . vergib, vergib dem gefallenen Sohn, vergib mir, wenn du mich liebst.“ Als Mann wird er dichten: Ihre Augen will ich wieder sehen, Ihr Blick ist mein Stern, Alles andre mag gehen und verwehn.

Ist ungestillte Sehnsucht die Grundkrankheit? Heute weiß die Psychologie: Mangel erzeugt Aggression.

Der Brief an den Vater

In Zynismus und Drohungen steigert Hermann Hesse sich im Brief an den Vater, den er mit „Sehr geehrter Herr!“ tituliert: „Darf ich Sie vielleicht um 7 Mark oder gleich um den Revolver bitten . . .  Mit Herrn Schall mag ich nicht verhandeln, der herzlose Schwarzfrack ist mir verhaßt, ich könnte ihn erstechen . . . wenn ich ein Verbrechen begehe, sind nächst mir Sie schuld, Herr Hesse . . . Ich hoffe, dass die Katastrophe nimmer lang auf sich warten läßt.“

Pfarrer Schall will ihn in die „Zucht“ nehmen. Der Zögling Hermann revoltiert: „Ich gehorche nicht und werde nicht gehorchen.“ Der Arzt spricht von „primärer Verrücktheit“ – Vorstadium eines unheilbaren Irreseins, ein Todesurteil. Um Hermann wird es einsam, die Eltern antworten nicht mehr auf seine Briefe. Er verzweifelt: Will man ihn für immer wegsperren? Schall und die Eltern haben gemeinsam beschlossen, hart zu bleiben: Es scheint ihnen das letzte Mittel, den „Rappler“ zur Vernunft zu bringen.

Hermann schreibt erneut: „Liebe Eltern! Verzeiht den letzten Brief, bitte! . . . Jetzt erst, da ich Eure Liebe verloren, fühle ich, dass ich Euch doch so sehr liebe.“ Postwendend erwidert der Vater: „Lieber Hermann! So, jetzt kann ich Dir doch wieder antworten . . .“ Eine Woche später öffnet sich das Anstaltstor in Stetten im Remstal. Die Rettung.

Fürs Erste. Hermann besucht ab Herbst das Gymnasium Bad Cannstatt und schafft dort das Einjährigen-Examen, aber immer wieder kommen von ihm „die schlimmsten Nachrichten“, von Karzerstrafen bis zu Selbstmorddrohungen. Wieder will man ihn „forttun“, im Gespräch ist die Heilanstalt Winnenthal in Winnenden, auch das „Rettungshaus“ Schönbühl oberhalb von Beutelsbach. Es kommt anders – zum Glück: Er wird als Praktikant in eine Calwer Turmuhrenmanufaktur eintreten, daneben die Privatbibliothek des Großvaters zu seiner Universität machen, am Klavier eigene Gedichte vertonen, „alles furchtbar melancholisch“, so die Mutter. Es ist der Beginn eines Heilungsprozesses – und seines Wegs zum Dichter der Selbstfindung und zum gefeierten Nobelpreisträger.