Ein Historiker soll 69 Jahre nach Kriegsende das dunkelste Kapitel in Geschichte der Gäustadt untersuchen. Stimmt der Gemeinderat in der nächsten Woche dem Konzept zu, muss nur noch ein Fachmann für das Projekt gefunden werden.

Regio Desk: Oliver im Masche (che)

Herrenberg - Heftig ist im Sommer im Herrenberger Gemeinderat darüber gestritten worden, ob es angebracht sei, die Hindenburgstraße umzubenennen. Denn der konservative Reichspräsident Paul von Hindenburg hat Hitler zum Reichskanzler ernannt. Mit der Machtergreifung der Nazis 1933 wurde in der Gäustadt aus der Garten- die Hindenburgstraße. Doch die SPD-Fraktion scheiterte Mitte Juli dieses Jahres mit dem Antrag, der Ortsdurchfahrt den Namen des Sozialdemokraten Willy Brandt zu geben. Die Umbenennung sei für die Anwohner mit zu hohen Kosten verbunden, argumentierten die Gegner. Und generell zeuge es auch nicht von einer undemokratischen Gesinnung, gegen sie zu stimmen.

 

Doch nun sind die Sozialdemokraten über den Erfolg ihres Engagements für eine Aufarbeitung der NS-Zeit erleichtert. Im Verwaltungsausschuss wurde jetzt darüber vorberaten, ob ein Historiker die Zeit in der Gäustadt zwischen 1920 und dem Ende der 50er Jahren wissenschaftlich aufarbeiten soll. Die SPD hatte diese wissenschaftliche Arbeit angeregt. In der Gemeinderatssitzung nächste Woche soll dem Konzept zugestimmt werden. Die Stadtverwaltung schlägt vor, in den nächsten drei Jahren im Haushalt 73 000 Euro bereitzustellen. Der Historiker selbst soll für seine Arbeit in Form eines zweijährigen Werkvertrags insgesamt 50 000 Euro honoriert werden. Auch die Kosten für den Druck einer späterer Publikation möchte die Stadt übernehmen. „Das alles liegt sogar deutlich über unseren Vorstellungen“, sagt der SPD-Fraktionschef Bodo Philipsen. „Das ist sehr gut angelegtes Geld.“

Schüler sollen helfen, die NS-Zeit zu erforschen

Philipsen hofft bei der Aufarbeitung der NS-Zeit auch auf das Engagement der Schulen. „Schön wäre es, wenn sich auch junge Menschen in einer Art Geschichtswerkstatt beteiligen würden.“ Dabei blickt der Fraktionschef vor allem nach Sindelfingen, wo Schüler des Goldberg-Gymnasiums in einer Geschichtswerkstatt seit den 80er Jahren federführend in der Kommune dazu beitrugen, das dunkelste Kapitel der Stadtgeschichte aufzuarbeiten.

Auch in Leonberg, eine der rechten Hochburgen zur NS-Zeit in der Region Stuttgart, gilt der lokale Faschismus mittlerweile als erforscht – auch dank der Arbeit der KZ-Gedenkstätteninitiative, die die Geschichte des Lagers mit seinen mehreren Tausend Häftlingen dokumentiert hat. In Herrenberg gab es bisher lediglich Bemühungen von Einzelpersonen, die Nazi-Zeit aufzuarbeiten.

So gilt der frühere Lehrer Dieter Schnermann als Experte für die NSDAP. Er begann bereits in den 70er Jahren die mühsame Recherche und musste sich dabei häufig sagen lassen, dass er die Vergangenheit doch ruhen lassen solle. Zudem hat Rafael Binkowski, der stellvertretende Leiter der Leonberger Kreiszeitung, sich in seiner Dissertation mit der Machtübernahme der Hitler-Partei in der Gäustadt befasst. Das Interesse an den lokalen Geschehnissen ist auch fast 70 Jahre nach Kriegsende hoch. Fast 100 Besucher wurden im Frühjahr in der KZ-Gedenkstätte Hailfingen-Tailfingen in Gäufelden gezählt, als die beiden Experten von der NS-Zeit im Gäu berichteten.

Hitler-Partei schnitt in Herrenberg besonders gut ab

Einige Fakten über Herrenberg im Dritten Reich kamen bereits ans Licht. Zwar bekannten sich die pietistischen Bewohner lange mehrheitlich zum konservativen „Württembergischen Bauernbund“. Anfang der 30er Jahre brachen aber alle Dämme. Die NSDAP erhielt immer mehr Stimmen. Bei der Reichstagswahl im Juli 1932 erreichte die Hitler-Partei 42,2 Prozent – auf Deutschlandebene waren es 37,4 Prozent und auf Landesebene 30,3 Prozent.

Bisher hat man in Herrenberg bei der Aufarbeitung der Stadtgeschichte den Schwerpunkt auf das Mittelalter gelegt. „Die Zeit des Nationalsozialismus ist bisher nicht erforscht“, so der Stadtsprecher Herbert Walter. Wenn der Gemeinderat sein Okay gibt, könnte ein Historiker im nächsten Jahr seine Arbeit aufnehmen.