Die Stadt lässt ihre Bürger über den Verkehr in und um künftige Wohngebiete streiten. Der Andrang ist unerwartet, und die Meinungen bleiben unvereinbar.

Böblingen: Marc Schieferecke (eck)

Herrenberg - Niemand werfe den Herrenbergern vor, sie verweigerten sich, wenn ihre selbsterklärte Mitmachstadt zum Mitmachen aufruft. 168 Stühle stehen in der Alten Turnhalle, in der sonst der Gemeinderat tagt. Sie reichen bei weitem nicht. In nicht allzu ferner Zukunft werden Treffen wie diese noch ein wenig größer geplant werden müssen, denn Herrenberg soll wachsen. Darum geht es heute. Im Süden der Stadt sind zwei neue Wohngebiete geplant. Zwerchweg und Kreuzen sind sie getauft. Auf 15 Hektar Fläche sollen um die 1400 Neu-Herrenberger ein Heim finden.

 

Es geht auch ums große Ganze, um das Reizthema Verkehr. Die Bürger sollen insbesondere über die Erschließung der Quartiere diskutieren. Sie sind nicht zum ersten Mal aufgerufen, an Zwerchweg und Kreuzen mitzuplanen. Es gab Versammlungen, Arbeitsgruppen, eine Lenkungsgruppe. So konnte immerhin das Gerücht gestoppt werden, dass im Süden der Stadt Hochhäuser wachsen sollten. Tatsächlich sollen Vorzeigequartiere entstehen, mit einem zentralen Park zwischen ihnen, Plätzen in ihrer Mitte und sogar einem Konzept für die E-Mobilität. Die Planer haben die Ideen der Jugend genauso berücksichtigt wie die von Behindertenverbänden – und so ziemlich aller zwischen diesen Polen.

Gleich welche Entscheidung des Gemeinderats wird nicht allen gefallen

Mitmachstadt hin, Bürgerbeteiligung her – „am Ende wird der Gemeinderat eine Entscheidung treffen, die sich am Gemeinwohl orientiert“, sagt der Oberbürgermeister Thomas Sprißler. „Die wird nicht jedem gefallen.“ Dies allein schon, weil die einen ihren Blick ins Grüne wahren, die anderen ihr Grundstück versilbern wollen. Dieses Thema wird heute nur gestreift, aber die Meinungen über den Verkehr sind ähnlich unvereinbar. Jahrelang haben Gutachter ergründet, wie das Auto aus dem Ort verbannt werden könnte. Umgehungsstraßen sind ebenso untersucht worden wie innerörtliche Umlenkungen. Für und gegen beides gründeten sich Bürgerinitiativen. Varianten wurden ent- und verworfen. Der Gemeinderat entschied sich für eine innerörtliche Lösung, I 3 opt getauft.

Die lautesten Sekunden des Abends sind die, in denen der Baubürgermeister Tobias Meigel sagt: „Wir kümmern uns um einen Bewusstseinswandel, damit mehr Leute auf das Fahrrad umsteigen.“ Durch den Saal schallt ein Gemisch aus Buhrufen und Gelächter. Die Mehrzahl derjenigen, die hier sitzen oder stehen, lebt im Alzental, das an die Neubaugebiete grenzt. Sie fürchten, dass die Neu-Herrenberger künftig an ihren Häusern vorbeifahren.

Dies scheint einigermaßen ausgeschlossen, es sei denn mit dem Fahrrad. Schleifenerschließung nennen die Planer ihr Konzept, was bedeutet: Autofahrer, die andere Wege wählen als die vorgesehenen, enden stets in Sackgassen. So ist Schleichverkehr ausgeschlossen. Die Schleifenerschließung soll sowohl im bestehenden Wohngebiet Alzental gelten als auch in den neuen Quartieren. Sie bedingt selbstverständlich, dass die Bewohner statt gewohnter Wege Umwege fahren müssen.

Ein Kompromiss scheint, dass nur Anlieger in den Gebieten fahren dürfen

Dass auch dazu die Meinungen schwer vereinbar sind, war schon vorab dokumentiert. Die Ideen zu Zwerchweg und Kreuzen reichten vom autofreien Quartier bis dahin, dass pro Wohnung zweieinhalb Parkplätze zu bauen seien. Der wahrscheinlichste Kompromiss scheint, dass nur Anlieger die Gebiete anfahren dürfen, auch das Alzental. Entschieden ist nichts. Der Gemeinderat hat allein zur Schleifenerschließung die Wahl unter fünf Varianten.

Jede Schleife beginnt und endet irgendwo. In diesem Fall einerseits auf der Tübinger-, andererseits auf der Horber Straße. Auch an ihr leben Menschen, und niemand im Rathaus bezweifelt, dass deren Klage über den Autoverkehr berechtigt ist. Gemäß den Berechnungen der Planer hat die Horber Straße ihre Belastungsgrenze erreicht. Zudem mündet sie auf den Reinhold-Schick-Platz, ein Überbleibsel aus der abgasgrauen Zeit der autogerechten Stadt. Das Kreuzungsungetüm mit seinen zwölf Fahrspuren ist Herrenbergs Nadelöhr für Autofahrer – und eine Barriere für Fußgänger. Ihn zu bändigen, ist ein Teil des Gesamt-Verkehrskonzepts namens IMEP, das noch in Arbeit ist. Bis es beschlossen wird, werden die Herrenberger noch etliche Male zum Mitmachen aufgerufen sein.