Über die Untaten der IS empören sich viele. Doch dem Herrenberger Werner Reutter (71) war das nicht genug: er organisiert Lastwagen voller Hilfsgüter für die Flüchtlinge im Nordirak.

Herrenberg - Seit die Kämpfer des Islamischen Staates den Mittleren Osten mit Terror überziehen, kommen die Bilder des Grauens auch in deutsche Wohnzimmer: die Nachrichtensendungen berichten über Jesiden, die in die Berge fliehen, entführte Frauen und erschossene Männer. Viele empören sind, manche spenden Geld. Doch Werner Reutter war das nicht genug: im vergangenen Herbst beschloss der 71-Jährige aus dem Herrenberger Ortsteil Gültstein, einen Lastzug voller Hilfsgüter zu sammeln und eigenhändig in den Irak zu fahren. Die Welle der Hilfsbereitschaft, die daraufhin einsetzte, überraschte aber sogar ihn: vor wenigen Tagen ist bereits der sechste Lastzug losgefahren. Beladen ist er mit Kleidung, Schuhen, Decken und Rollstühlen, die in einem Flüchtlingslager im Nordirak verteilt werden sollen. Selber ans Steuer hat sich Reutter dann doch nicht gesetzt: das übernehmen Mitarbeiter einer türkischen Spedition.

 

Schon 1991 fuhr Reutter 4000 Kilometer in den Nordirak

Wenn irgendwo Hilfe benötigt wird, hat Werner Reutter sich schon immer angesprochen gefühlt. Er hat lange bei der Stuttgarter Feuerwehr gearbeitet. Als Rettungsassistent bei der Flugwacht holte er erkrankte Deutsche aus dem Ausland zurück. Parallel organisierte der gläubige Christ Hilfsaktionen: seine Schwester leitete ein Krankenhaus in Tansania, das er schon in den 80er Jahren mit Solarpaneelen ausstattete. Und als sich 1991 die Kurden im Nordirak gegen Saddam Hussein erhoben und dieser den Aufstand brutal niederschlagen ließ, fuhr Werner Reutter einen Lastwagen voller Hilfsgüter über eine Strecke von mehr als 4000 Kilometern ins nordirakische Erbil – damals saß er noch selber am Steuer.

Heute würde eine solche Fahrt die Kräfte des 71-Jährigen wohl überfordern. Doch in den vergangenen Monaten ist er zweimal für jeweils zwei Wochen in den Nordirak geflogen, um dort die Lastwägen voller Hilfsgüter in Empfang zu nehmen und unter den Flüchtlingen zu verteilen. Begleitet wurde er von Jabbar Karim. Der 60-Jährige ist Kurde und in Erbil aufgewachsen. Als Werner Reutter vor 24 Jahren seinen ersten Hilfstransport in den Nordirak fuhr, floh Jabbar Karim mit seiner Familie gerade zu Fuß vor den Bombenangriffen Saddam Husseins.

Der Dolmetscher ist furchtlos – und spricht acht Sprachen

Einige Jahre später – Karim hatte inzwischen zwei kleine Töchter – hatte der studierte Elektroingenieur genug von den Kämpfen in seiner Heimat. Mit einem gefälschten Pass flog er nach Deutschland und beantragte Asyl. Wenige Monate später fand er Arbeit und eine Wohnung in Herrenberg. Nach knapp zwei Jahren konnte er seine Familie nachholen. Als der heute 60-Jährige von Werner Reutters Hilfsaktion hörte, meldete er sich sofort, um diesen als Dolmetscher zu begleiten. „Ich spreche deutsch, englisch, drei kurdische Dialekte, arabisch, persisch und ein bisschen aramäisch“, zählt Karim auf. „Einen besseren Begleiter hätte ich mir nicht wünschen können“, sagt Reutter. „Die meisten hatten sowieso zu viel Angst, um mitzukommen.“

Dutzende Menschen aus der Umgebung Herrenbergs wirken allerdings daran mit, dass ein Hilfstransport zustande kommt. Neben den Spendern gibt es Helfer, die Kleider und Schuhe nach Größe sortieren und verpacken. Andere beladen die Transporter oder werben um Spenden. Denn ein Transport kostet etwa 6000 Euro – und neben den Sachspenden verteilt Werner Reutter auch Geld an die Menschen, die vor dem IS geflohen sind.

Viele der Helfer haben – wie Werner Reutter selber – einen christlichen Hintergrund. Doch die Lieferungen kommen geflohenen Jesiden, Muslimen und Christen gleichermaßen zugute. Besonders schmerzt Reutter aber die Zerstörung christlicher Gemeinden im Irak, die seit mehreren tausend Jahren bestanden haben und wo die Menschen noch aramäisch – die Sprache Jesu – sprechen. „Die IS-Kämpfer sagen zu den Menschen: wenn ihr zum Islam konvertiert, könnt ihr bleiben und all euren Besitz behalten“, erzählt er. „Doch die meisten fliehen.“

Zwölfjährige muss sich um fünf Geschwister kümmern

Wer mit christlichen, muslimischen oder jesidischen Flüchtlingen spricht, erfährt Dramatisches. „In jedem Zelt hört man von einem Schicksalsschlag“, sagt Reutter. Nahe der nordirakischen Stadt Duhok lebten eine Million jesidischer Flüchtlinge in Lagern. „Wir haben dort ein zwölfjähriges Mädchen getroffen“, berichtet er. „Ihr Vater wurde von IS-Kämpfern erschossen, ihre Mutter entführt. Jetzt muss sie sich allein um ihre fünf jüngere Geschwister kümmern.“ Reutter weiß, dass seine Hilfe nur ein Tropfen auf dem heißen Stein ist – ein kleiner Beitrag, damit die Flüchtlinge wieder Hoffnung schöpfen. In zwei Wochen fliegt er mit Karim wieder hin.

Mehr Informationen über das Hilfsprojekt: www.fluechtlingshilfe-kurdistan.de