HGich.T haben am Freitag die bislang schrägste Performance des Jahres in Stutttgart abgeliefert. Wir versuchen, den Trash-Exzess in Worte und Bilder zu packen ...

Digital Desk: Jan Georg Plavec (jgp)

Stuttgart - Wer nicht beim Konzert von HGich.T im Stuttgarter Club Universum war und trotzdem behauptet, er hätte schon alles gesehen, lügt. Und es lügt auch, wer behauptet, dass er mit genau so einer Show gerechnet habe.

 

Wer will, der findet im Netz viele Geschichten über HGich.T, ihre (vielleicht) anspielungsreichen Performances und die Trashkultur der Fans (hier zum Beispiel). Letztlich hilft alle Vorstellungskraft nichts: bei einem Auftritt des Hamburger Kollektivs muss man einfach real anwesend sein. Auch wenn einen das Gesehene und Gehörte fast schon physisch abstößt – genauso zieht es einen auch in seinen Bann, in diesem Fall bis weit nach Mitternacht und über das Konzert hinaus. Die Show geht unmittelbar in die After-Show-Party über.

Unz Unz

Von der Bühne über die Protagonisten bis zum Publikum passt bei HGich.T gleichzeitig alles und nichts zusammen. Die orange leuchtenden Warnwesten, der Hippie-Look, die bemalten Gesichter, die durch den gesamten Club Universum gespannten, von Schwarzlicht beleuchteten „Spinnweben“, Unz-Unz-Trance-Techno der schlimmsten Art und die fast ohne Pause vorgetragenen Gedankenströme des Sängers, der sich Anna-Maria Kaiser nennt und Telefonnummern auf seine ziemlich hohe Stirn geschmiert hat und irgendwie an Martin Sonneborn erinnert.

Das ist, so könnte man behaupten, der in teils kaum zwei Minuten lange „Songs“ verdichtete Müll der Neunziger-Raves, wie er sich weit unten in den Ecstasy-geschädigten Hirnen der Technogeneration abgesetzt hat. Es ist Abfall, Fäkalien, Drogen, Sex, Dada und eine Parodie auf die Musik dieser Zeit, etwa von The Prodigy. Und es ist eine Parodie der Parodie: Bei der Show von HGich.T fühlt man sich unweigerlich an Deichkind erinnert, nur dass die in aller Regel Leute zum Exzess bewegen, die sich dafür bis nach Feierabend Zeit lassen.

Bei HGich.T kann man sich trotz anderslautender Berichte nur schwerlich vorstellen, dass jenseits der hier zusammengemüllten Lebenswelt so etwas wie ein Bürojob existiert. Und das Publikum, das zu dieser Musik völlig sich selbst vergisst und schwitzt und spuckt und springt und schreit, es kann sich zumindest für diesen Abend als Teil eines abgehängten, aber in diesem Schicksal auch irgendwie heroisch standhaften Prekariats fühlen.

Verstören, das schaffen heutzutage nur wenige

Aber just das ist es ja, was das Kollektiv – nehmen wir es an dieser Stelle einmal ganz ernst – darstellt: die Welt abseits der materiell und kulturell dominanten Schichten, nämlich die von Vorarbeitern, Geisteskranken, Taugenichtsen. Was weiß die Mehrheitsgesellschaft schon von denen? Was hat man zu den Derben, den Prolls, den hässlichen Entlein und den Außenseitern im Kopf außer Vorurteilen? Ist es vorstellbar, mit solchen Leuten einen Freitagabend lang zu feiern?

Abseits von einer natürlich bloß unterstellten inhaltlichen Zielrichung schaffen HGich.T, was heute nur noch schwer möglich ist: zu verstören. Gerade Popmusik auch im allerweitesten Sinne hat entweder diesen Anspruch aufgegeben oder trifft auf ein höchst abgeklärtes Publikum, das sich an die immer neuen Überwältigungsstrategien schnell gewöhnt.

HGich.T setzen dem eine schrille, primitiv wirkende und doch klug durchdachte und an manchen Stellen gar virtuose Performance entgegen. In dem vermeintlichen Chaos geht unter, dass die Show fast ganz ohne Ansagen auskommt, dem sich mit großer Freude verausgabenden Publikum also keine Pause gegönnt wird. Außerdem ist der Zuschauerraum von Anfang an eine bloße Erweiterung der Bühne: das Publikum ist, obwohl fast ausschließlich frontal angesprochen, Teil der Show, Musiker wie Zuschauer (die Grenze ist nicht ganz klar) üben sich fröhlich im Stagediven, Pogotanzen, Nassmachen. Anders kann es auch gar nicht sein. Man stelle sich einen Auftritt von HGich.T in, sagen wir, einem bestuhlten Konzerthaus mit fünf Meter Abstand zwischen Zuschauern und Bühne vor. Würde nicht funktionieren!

Aber stimmt ja, ein HGich.T-Konzert kann man sich nicht vorstellen, man muss dabei gewesen sein. Mit den Fotos versuchen wir zumindest ansatzweise zu vermitteln, wie es am Freitag beim Konzert in Stuttgart war.

P.S. Gefeiert wurde auch die Vorband: das war das aus Stuttgart / Esslingen stammende Trio Ursus, das uns auch ein Video zeigt:

 

Liebe Schmelzenden, gestern im Universum mit HGich.T hat's uns den Vogel vollends rausgehauen! Wenn es für den Begriff "...

Posted by URSUS on  Saturday, July 4, 2015

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