Streetwork und Sozialhotels für Obdachlose sind heutzutage Standards. Die Idee dazu hatte vor 40 Jahren eine kleine Studentengruppe. Heute ist ihr Verein aus Stuttgart nicht wegzudenken.

Stuttgart - Seebär, Irene und Jochen gehören Anfang der 1990er zu Manfred E. Neumanns Klienten. Der Streetworker der Ambulanten Hilfe und sein Freund und Kollege Willi Schraffenberger interessieren sich für das Schicksal der Männer und Frauen, portraitieren sie und veröffentlichen Texte und Bilder in einem Buch. Es spielt zu einer Zeit, in der das Kampieren im Freien „ Platte machen“ heißt.

 

Vor 20 Jahren war „Platte machen“ nicht erwünscht. Nichtsesshafte, so die Bezeichnung damals, wurden zumeist im Asyl an der Nordbahnhofstraße verwahrt und verköstigt. Im Jahr 1974 soll ein Gutachten klären, was diese Menschen wollen und brauchen, damit ein passender Sozialplan erstellt werden kann. Das Ergebnis: Bei mehr als 60 Prozent der Klienten ist keine stationäre Unterbringung notwendig.

Hilfe zum selbstständigen Leben

Ein Alternativplan muss her. Da trifft es sich gut, dass zwölf idealistische Studierende der Sozialpädagogik und der Psychologie, damals noch mit langen Mänteln und die Herren mit Zauselbärten, ihr Ziel nicht aus den Augen lassen wollen. Sie kämpfen für die Überzeugung, dass Sozialarbeit dann erfolgreich ist, wenn sie dem Klienten Hilfe zur Selbsthilfe bietet und irgendwann einmal überflüssig ist.

Sie stützen sich auf die Annahme, dass jeder Obdachlose auch gewisse Fähigkeiten besitzt. Mit einer individuellen, ambulanten Förderung und Betreuung sollen die Menschen in die Lage versetzt werden, möglichst eigenständig ihr Leben zu führen, statt alle über einen Kamm zu scheren und in einem Asyl unterzubringen. Also bieten die Studenten an 20 Stunden pro Woche eine Beratung für Wohnungslose an. Sie nennen sich Ambulante Hilfe, entsprechend der neuen, ambulanten Hilfsart, und gründen im Jahr 1977 einen Verein.

Nicht mehr wegzudenken

Mittlerweile hat sich die Idee der Ambulanten Hilfe für Menschen in Armut und Wohnungsnot bundesweit als Standard durchgesetzt. Aus dem kleinen Verein mit einer Handvoll Mitarbeitenden ist in Stuttgart ein Träger der Wohnungsnotfallhilfe geworden, der aus dem Hilfesystem nicht mehr wegzudenken ist. Im Jahr 2015 – neuere Zahlen liegen noch nicht vor – hat der Verein 869 Menschen betreut.

Lediglich 143 Personen waren tatsächlich ohne Wohnung, doch viele Menschen in Armut greifen auf flankierende Hilfen zurück. So suchen die Streetworker der Ambulanten Hilfe regelmäßig die Treffpunkte auf, wo Obdachlose und Wohnheimbewohner zusammentreffen. In Tagesstätten können sich Menschen für wenig Geld verköstigen, waschen, duschen und einkleiden. Eine Frauenberatung hat sich auf weibliche Problemlagen spezialisiert. Es gibt eine teilstationäre Einrichtung, ein Sozialhotel und das Medmobil, das Menschen an den bekannten Treffpunkten ambulant medizinisch versorgt. Auch die Winternotübernachtung der Stadt ist inzwischen längst zur ständigen Einrichtung geworden, während im Winter 1978 noch drei Menschen erfroren sind, die auf den Notplätzen im Speisesaal oder in den Treppenhäusern der Nordbahnhofstraße nicht übernachten wollten.

Schwabenalter erreicht

„Eine Wohnung ist nicht alles, aber ohne Wohnung ist alles nichts!“, sagt der Streetworker Manfred E. Neumann. Deshalb baue der Verein seit vielen Jahren Sozialwohnungen; mehr als 150 sind entstanden. Die Wohnungsnot ist wegen der Preisentwicklung und zunehmender Armut nicht geringer geworden. Aber immerhin hätten dort auch „die sonst Chancenlosen noch eine Chance“.

Eine Zunahme verzeichnet die Ambulante Hilfe vor allem beim Anteil der psychisch Kranken unter den Obdachlosen und Heimbewohnern. „Damit sind die Gesundheitsdienste meist überfordert“, sagt Neumann. Doch das Hotel Rössle, ein Sozialhotel mit sozialpädagogischer Betreuung, bietet seit dem vergangenen Jahr Abhilfe.

Das Schwabenalter feiert die Ambulante Hilfe: Im Kulturwerk Ostendstraße 106A beginnt das Fest am Freitag, 30. Juni, um 15 Uhr.