Drei- bis viermal im Jahr reist eine Tübinger Spezialistin für Kinderaugen auf den Balkan, um den Ärmsten der Armen zu helfen. Auf Tour mit Elfriede Joos-Kratsch.

Tübingen/Shkodra - Die Dottoressa aus Deutschland verspätet sich. Die Patienten warten geduldig vor dem Tor der katholischen Missionsstation, manche bereits seit Stunden. In aller Frühe sind sie aufgebrochen aus ihren Dörfern und weit verstreut liegenden Weilern. Sie leben in den nordalbanischen Bergen, dem Armenhaus Europas. Auf Straßen, die diese Bezeichnung nicht verdienen, sind sie nach Fushe Arrez gefahren, zwei Autostunden von der Stadt Shkodra entfernt.

 

Fushe Arrez ist eine kleine, hässliche Minenarbeitersiedlung, die die Regierung in der Zeit des Kommunismus in den 1970er Jahren hochgezogen hatte und die nun langsam zerfällt. Die Fabriken sind längst kaputt, die Plattenwohnbauten bröckeln. Nur wenige Menschen haben Arbeit. Laut Renovabis, dem Osteuropa-Hilfswerk der Katholischen Kirche in Deutschland, beträgt die Arbeitslosenquote in und um Fushe Arrez 70 Prozent.

Hier betreiben zwei deutsche Nonnen seit 20 Jahren eine kleine Missionsstation mit Kindergarten, Lebensmittelausgabe und Hausbauhilfe. Sie versuchen, die schlimmste Not zu lindern. Am gefragtesten ist ihre Ambulanz, sie ist die erste Anlaufstation für alle Kranken und Verletzten. Es werden Medikamente und Spritzen ausgegeben, die die Patienten brauchen, wenn sie sich im örtlichen Krankenhaus behandeln lassen. „Die Patienten müssen alles ins Hospital mitbringen. Und Medikamente sind teuer und rar“, sagt Schwester Gratias, die die Missionsstation leitet.

An einem sonnigen, kühlen Dienstag Anfang Juni warten die Menschen auf Elfriede Joos-Kratsch. Die 61-jährige Tübingerin wird kostenlos Kinderaugen untersuchen. „Wenn eure Kinder Probleme mit dem Sehen haben, dann kommt vorbei“, hat Schwester Gratias ihre Schützlinge in den Dörfern ringsum informiert. Nun stehen sie vor dem Tor und warten: Mütter, Väter und Großeltern mit Jungen und Mädchen aller Altersgruppen.

Spezialistin für Kinderaugen

Vor zwei Jahren hat die Dottoressa, wie sie hier alle nennen, mit den Augenuntersuchungen in Nordalbanien begonnen. Dabei ist Elfriede Joos-Kratsch keine Ärztin. Das betont sie immer wieder. Aber eine Spezialistin für Kinderaugen, das ist sie. Orthoptistin heißt ihr Beruf, den auch viele in Deutschland nicht kennen. In der Praxis einer Tübinger Augenärztin ist Joos-Kratsch die Anlaufstelle für Kinder, die schielen oder eine Brille benötigen.

Vorsorgeuntersuchungen kennt man in Albanien nicht. Die Kindersterblichkeit ist fünf Mal so hoch wie bei uns. Die Krankenhäuser sind marode und viele Ärzte ins Ausland abgewandert. Eine Behandlung gibt es selbst im Notfall nur gegen Cash. Korruption bestimmt die Gesellschaft, auch den Gesundheitssektor. Albanien steht auf Platz 116 von insgesamt 177 Ländern beim Korruptionsindex der nichtstaatlichen Organisation Transparency International. „Jeder Arzt hält die Hand auf und will erst mal Geld, bevor er irgendetwas tut“, sagt Schwester Gratias. Die wenigen Wohlhabenden fahren zur Behandlung nach Italien oder Österreich. Den Armen bleibt nur die Hilfe durch kirchliche und soziale Organisationen, die zumeist aus dem Ausland kommen.

Am liebsten besucht Elfriede Joos-Kratsch Kindergärten und testet dort die Sehfähigkeit der Kleinen. „Je früher man eine Fehlsichtigkeit erkennt, desto besser kann man helfen“, sagt sie. Bei manchen Diagnosen sei es bereits im Grundschulalter zu spät. „Schielen kann man dann nicht mehr richtig korrigieren“, erklärt sie.

Mit einem mobilen Autorefractometer, einem speziellen Messgerät, das ihr die Nürnberger Firma Plusoptix günstig zur Verfügung stellt, kann sie in wenigen Minuten die Augenwerte erfassen. Etwa jedes fünfte Kind ist dabei auffällig. Diese Patienten bestellt Joos-Kratsch dann für den nächsten Tag in die Praxis des Augenarztes Astrit Beci in Shkodra. Beci, Mitglied der seit vergangenem Jahr regierenden sozialistischen Partei, soll eine nationale Krankenversicherung aufbauen und ist deshalb nur noch samstags in seiner Praxis. Joos-Kratsch darf die Räume und die Geräte für ihre Untersuchungen kostenlos nutzen.

Die Sehhilfe als Luxusgut

Ihre Reisekosten übernimmt sie selbst. Brillengestelle erhält sie von Sponsoren wie Fielmann. Die anderen Unkosten – wie die Entlohnung der einheimischen Helfer – trägt ein extra dafür gegründeter Förderverein mit Sitz in Tübingen: Daika, Deutsch-Albanische Initiative für Kinderaugen. Der Verein bezahlt auch die Brillengläser, wenn eine Familie kein Geld hat. Brillen kosten in Albanien fast so viel wie in Deutschland, das Durchschnittseinkommen beträgt jedoch nur 300 Euro pro Monat. Da wird die Sehhilfe zum Luxusgut.

Mit einer Stunde Verspätung trifft Elfriede Joos-Kratsch in Fushe Arrez an. Der Fahrer aus der Stadt hatte Schwierigkeiten mit den für ihn ungewohnten Straßenverhältnissen. Im Flur der Ambulanz richtet das Team aus Shkodra, zu dem auch die albanischen Assistentinnen und Dolmetscherinnen Suela und Vilma gehören, eine provisorische Praxis ein.

Leonarda ist die erste Patientin. Die Neunjährige, deren Augen zum ersten Mal untersucht werden, ist stark weitsichtig. „Mindestens zehn plus“, stellt Joos-Kratsch fest. Sie bestellt das Kind für den nächsten Tag in die Praxis nach Shkodra. Mit einer Brille lässt sich ihre Fehlsichtigkeit vermutlich gut korrigieren. Die tiefbraunen Augen von Geraldo sind betörend, den richtigen Durchblick garantieren sie ihm aber nicht. „Welche Probleme hat er“, fragt Joos-Kratsch. „Beim Lesen hat er oft Kopfweh“, antwortet Geraldos Mutter. Auch der Achtjährige ist ein Fall für eine weitere Untersuchung in Shkodra.

Besuch bei den Mutter-Teresa-Schwestern

Obwohl die Orthoptistin und ihre Assistentinnen ohne Pause arbeiten, werden die Patienten nicht weniger, sondern mehr. Es hat sich im Ort herumgesprochen, dass eine deutsche Spezialistin da ist. Familien strömen in die Missionsstation. Irgendwann schließt Schwester Gratias das Tor: „Ihr seid das nächste Mal dran.“ Im Oktober wird Joos-Kratsch wiederkommen. Dann will sie auch die 75 Kleinen des Kindergartens der Schwestern untersuchen.

Drei- bis viermal im Jahr reist Joos-Kratsch für einige Tage nach Albanien. Jedes Mal führt sie mehrere Screenings durch und behandelt die Problemfälle. Hinzu kommen Nachuntersuchungen von Patienten vom letzten Besuch. „Wir müssen prüfen, ob die Brille auch wirklich passt.“ Rund 1000 Kinder hat Joos-Kratsch in den vergangenen anderthalb Jahren untersucht, mehr als 100 Brillen verordnet.

Besuchte Joos-Kratsch anfangs überwiegend staatliche Kindergärten und Grundschulen in der 80 000-Einwohner-Stadt Shkodra, verlagert sich ihre Arbeit mittlerweile mehr auf die armen ländlichen Regionen und auf sozial Bedürftige in Heimen und von Hilfsorganisationen.

Dieses Mal steht auch ein Besuch bei den Mutter-Teresa-Schwestern an. Sie betreiben im Stadtzentrum von Shkodra, versteckt hinter einem riesigen Tor, ein Heim. Die hier lebenden geistig und mehrfach behinderten Menschen wurden von ihren Familien ausgesetzt. Acht Schwestern aus Bangladesch, Albanien, Indien und Polen betreuen gemeinsam mit einigen örtlichen Helfern 57 Kinder und Erwachsene. Die Ausstattung und Einrichtung ist dürftig, das Engagement der Schwestern dafür umso größer.

Das blinde Baby

Schwester Dasi aus Polen ist eine ausgebildete Ärztin, doch an den Augen wurden ihre Schützlinge noch nie untersucht. „Dabei haben vor allem Kinder mit Down-Syndrom zumeist eine große Sehschwäche“, sagt Elfriede Joos-Kratsch. Fünf kleine Patienten zwischen drei und zehn Jahren bestellt die Orthoptistin für den Nachmittag ein. „Alle haben ein Sehvermögen von im Moment nur 20 bis 30 Prozent“, sagt sie, „das können wir verbessern.“

Am nächsten Tag hat das Team Großkampftag in der Praxis. Alle Patienten mit größeren Problemen aus Fushe Arrez sind einbestellt. Dazu kommen mehrere Schützlinge der Organisation Allianz für Kinder, die schwerkranke albanische Mädchen und Jungen in Österreich operieren lässt. Pellumb Brusha, der Organisator vor Ort, hat fünf Kinder angekündigt, bei denen während ihres Aufenthalts in österreichischen Kliniken auch Augenfehler entdeckt worden sind.

Dann stehen auch noch unangemeldete Patienten vor der Tür, die von der deutschen Expertin gehört haben. „Es gibt kein Vertrauen in die albanischen Ärzte. Deshalb kommen die Leute“, erklärt Pellumb Brusha. Auch eine verzweifelte Mutter mit einem knapp zweijährigen Mädchen hofft, dass die deutsche Spezialistin ihr Kind retten kann. Doch als Joos-Kratsch den schriftlichen Arztbericht sieht, schüttelt sie nur den Kopf. Das Mädchen leidet an einem Tumor, der das Gehirn und ein Auge befallen hat. Lange wird es vermutlich nicht mehr leben.

Besorgt ist Joos-Kratsch auch, als sie den zehnjährigen Aurel untersucht. „Er hat vor vier Wochen einen Stein aufs Auge bekommen.“, erzählt seine Mutter. Die Netzhaut wurde geschädigt. Nur eine schnelle Operation kann das Auge retten. „Das ist ein Fall für den Arzt“, entscheidet Joos-Kratsch. Dieser kommt am Nachmittag, um alle Problempatienten zu begutachten.

Operation in Österreich

Schockiert ist eine junge Mutter: Ihr vier Monate altes Baby ist fast blind, erfährt sie in der Praxis. „Es leidet an Albinismus“, sagt Joos-Kratsch. Die Diagnose bestätigt wenig später auch der Augenarzt Artan Hibraj, den die Orthoptistin bei schwierigen Fällen stets zurate zieht. „Die Augen sind nicht pigmentiert. Das ist angeboren. Vielleicht bessert sich das Sehen aber noch“, macht Hibraj der jungen Frau Hoffnung.

Dann ist Aurel an der Reihe, der Junge mit der Steinschlagverletzung am Auge. Der Arzt empfiehlt eine umgehende Operation. „Die kostet mindestens 3000 Euro und kann nur in der Hauptstadt Tirana gemacht werden.“ Die Mutter bricht in Tränen aus. „Das können wir nicht bezahlen.“ Zum Glück ist Pellumb Brusha von Allianz für Kinder gerade da. Er telefoniert mit seiner Zentrale in Österreich. „Schickt uns die Unterlagen. Dann können wir den Jungen in Österreich operieren“, verkündet er. Ob die OP noch rechtzeitig kommt, um das kaputte Auge zu retten, das kann freilich niemand garantieren.

Elfriede Joos-Kratsch stößt oft an Grenzen, doch das hält sie nicht davon ab weiterzumachen. Sie leistet das, was sie leisten kann. Jedes Mal, wenn sie Albanien verlässt, können ein paar Kinder besser sehen als vor ihrer Visite in Shkodra und Umgebung: Geraldo, der Junge mit den tiefbraunen Augen etwa, oder Erika, die Neunjährige mit Down-Syndrom aus dem Mutter-Teresa-Heim. Stolz trägt sie ihre neue Brille. 40 Prozent sieht sie jetzt, doppelt so viel wie zuvor. „Und das wird noch besser werden, wenn sie sich an die Brille gewöhnt hat“, verspricht Joos-Kratsch. Zum Dank gibt es einen Kuss von Erika für die Dottoressa.