Mit dem Human Brain Project will Europa weltweit in der Hirnforschung vorankommen. Doch viele Wissenschaftler haben Probleme mit dem milliardenschweren Forschungsvorhaben der EU. Auf der Jahrestagung in Heidelberg wurde nun darüber diskutiert, wie es in Zukunft weitergehen soll.

Heidelberg - „Reden Sie mit den Leuten, die Sie noch nicht kennen“, empfiehlt der Konferenzleiter Karlheinz Meier seinen rund 500 Gästen. Damit könne man die fachübergreifende Kooperation stärken, die von der Europäischen Union gewünscht werde. Meier hat – nach dem Auftakt vor einem Jahr – zur ersten Jahrestagung des Human Brain Projects nach Heidelberg eingeladen. Dort werden diese Woche die ersten Ergebnisse des Projekts vorgestellt, das von der EU mit einer Milliarde Euro gefördert wird. Meier zitiert stolz einen Brief der Wissenschaftsministerin Theresia Bauer (Grüne) aus Stuttgart: Das Human Brain Project zeige „beispielhaft, wie in Europa Spitzenforschung geleistet werden kann, die weltweit ihresgleichen sucht“. Das Land beteiligt sich an einem neuen Gebäude für das Projekt auf dem Gelände der Universität Heidelberg.

 

Nach einem Jahr Anlauf wäre es nun an der Zeit, die Phase der Forschung einzuleiten, doch Meier spricht auch von einem „Schlag“ gegen das Projekt. Er ist zwar – wie alle Redner beim Auftakt der Tagung – optimistisch, aber die Situation ist noch nicht entschärft. Als die Leitung des Human Brain Projects im Juni der EU ihren Plan für die kommenden Jahre präsentierte, rebellierten die Kollegen. Fast 500 Neurowissenschaftler unterzeichneten einen offenen Brief an die EU-Kommission, in dem sie sich über unrealistische Ziele und intransparentes Management beschwerten.

Begutachtung durch anonyme Experten

Inzwischen hat die EU den Plan der Projektleiter von anonymen Experten begutachten lassen. Robert Madelin, der zuständige Beamte in der EU-Kommission, berichtet, dass das Ergebnis „sehr gut“ ausgefallen sei. Die Gutachter würden aber mehr Transparenz bei der Weiterentwicklung des Projekts empfehlen sowie die bessere Einbindung der kognitiven Neurowissenschaft. Damit spricht Madelin zwei zentrale Forderungen aus dem offenen Brief an. Der Protest hatte sich entzündet, als die kognitive Neurowissenschaft, ein experimentell ausgerichteter Forschungsbereich, aus dem Kernprojekt ausgegliedert worden war. Alle Projekte, die nicht zum Kernprojekt gehören, müssen sich bei den EU-Mitgliedstaaten um Fördermittel bewerben. Die EU fördert nur das Kernprojekt mit knapp der Hälfte der in Aussicht gestellten Mittel von einer Milliarde Euro.

Vor zwei Wochen wurde der Leiter des Forschungszentrums Jülich, Wolfgang Marquardt, zum Mediator in diesem Streit ernannt. Am Forschungszentrum Jülich arbeiten zwar Forscher am Human Brain Project mit, Marquardt selbst jedoch nicht. Er war zudem in den vergangenen Jahren Vorsitzender des Wissenschaftsrats, einem Gremium, das die Politik in Fragen der Forschungsförderung berät. Als Themen seiner Arbeit nennt er eine Restrukturierung der Leitung des Human Brain Projects und „eine neu ausbalancierte wissenschaftliche Ausrichtung“. Bis Mitte 2015 gibt sich Wolfgang Marquardt dafür Zeit. Die Initiatoren des offenen Briefs sind mit dem Verfahren einverstanden, schreiben aber in einer Pressemitteilung: Ob die Mediation zu den gewünschten grundsätzlichen Veränderungen führe, müsse man abwarten.

Projektziele sollen häufiger erläutert werden

Aus Sicht der Leitung des Human Brain Projects geht der Streit auf ein Missverständnis zurück. Der Sprecher Henry Markram kündigt deshalb jetzt in Heidelberg an, die Ziele des Projekts häufiger zu erläutern. Er und sein Team vergleichen das Human Brain Project zuweilen mit dem Forschungszentrum Cern und dessen riesigem Teilchenbeschleuniger LHC: Auch das neue europäische Milliardenprojekt der Hirnforschung will der Fachwelt ein großes Instrument zur Verfügung stellen. „Beim Human Brain Project geht es nicht darum, das Gehirn zu verstehen“, sagt Markram. „Es geht vielmehr darum, die Infrastruktur zur Verfügung zu stellen, mit der die Fachwelt das Gehirn erforschen kann.“

Katrin Amunts vom Forschungszentrum Jülich und ihre Kollegen haben kürzlich im Fachjournal „e-Neuroforum“ für die Grundidee des Human Brain Projects geworben: „Die immense Komplexität des Gehirns mit seinen 86 Milliarden Nervenzellen macht es unabdingbar, einen Simulierungsansatz in Kombination mit Hochleistungsrechnern zu verfolgen, um die Organisationsprinzipien des Gehirns zu analysieren.“ Markram geht noch weiter und spricht sogar von den „Grenzen des Experimentierens“: Manchmal brauche man neue Ansätze, um mit der Fülle der experimentellen Daten zu arbeiten. Derzeit würden weltweit sieben Milliarden Euro im Jahr für die Hirnforschung ausgegeben – ohne dass es in der Therapie von Krankheiten wie Alzheimer und Parkinson substanzielle Fortschritte gebe. Das Human Brain Project werde Supercomputer bereitstellen, mit denen sich das menschliche Gehirn simulieren lasse, um so neuartige Erkenntnisse zu gewinnen.

Machen Datenmengen Hirnfunktionen deutlich?

Ob man damit den gewünschten medizinischen Therapien näher kommt, ist freilich noch nicht absehbar. Es handelt sich um ein Big-Data-Projekt, bei dem große Mengen Informationen über Nervenzellen und ihre Verknüpfungen untereinander zusammengeführt werden. Werden diese Datenmengen auch die Funktionsprinzipien des Gehirns verständlich machen? Doch die EU hat sich ausdrücklich riskante Projekte mit großem Potenzial gewünscht, als sie zu Bewerbungen für die Milliardenförderung aufrief. Sie erwartet am Ende der Laufzeit im Jahr 2023 zwar ein detailliertes Computermodell des Gehirns, aber darüber hinaus nur eine erste „Karte“ der wichtigsten geistigen Erkrankungen, also Hinweise auf mögliche Therapien.

Das hatten sich nicht wenige Kollegen Markrams anders vorgestellt. Sie dachten, die experimentelle Neurowissenschaft sei ein zentraler Teil des Projekts. Gilles Laurent vom Frankfurter Max-Planck-Institut für Hirnforschung, einer der Unterzeichner des offenen Briefs, hat sich kürzlich zusammen mit einem Kollegen im Fachjournal „Nature“ beschwert: „Neurowissenschaftler, die das Human Brain Project am Anfang unterstützt haben, glauben nun, dass man sie ausgenutzt hat.“ Sie durften ihr Renommee als Partner in den Antrag einbringen, müssen sich nun aber selbst um die Finanzierung ihrer Projekte kümmern, weil sie nicht zum Kern des Projekts zählen. Auf den Mediator Wolfgang Marquardt kommt also viel Arbeit zu.

Kurze Chronik des Human Brain Projects

Startschuss
Die EU hat im Januar 2013 zwei Flaggschiff-Projekte ausgewählt, die sie im Laufe von zehn Jahren mit jeweils einer Milliarde Euro fördern möchte. Neben dem Human Brain Project war auch noch das Graphen-Projekt erfolgreich, in dem ein neuartiges Material für die T-Industrie erforscht wird.

Ziel
Am Human Brain Project, das in großem Stil experimentelle und klinische Daten über das Gehirn zusammenführen und Computersimulationen ermöglichen soll, sind 112 Universitäten und Unternehmen aus 24 Staaten beteiligt.

Konkurrenz
In den USA hat Präsident Barack Obama ebenfalls ein Großprojekt in der Hirnforschung angekündigt: die Brain Initiative, die mit 300 Millionen Dollar jährlich gefördert werden soll.

Konflikt
Von Anfang an hatte es unter europäischen Hirnforschern Kritik am Human Brain Project gegeben: zu ehrgeizig, zu wenig transparent. Im Juli haben einige Hundert Forscher in einem offenen Brief an die EU-Kommission eine gründliche Überprüfung des Projekts angemahnt. Der Leiter des Forschungszentrums Jülich, Wolfgang Marquardt, ist daraufhin als Mediator eingesetzt worden.