Der Historiker Matthias Hofmann sprach über die orientalisch-europäische Kulturgeschichte. Die Gäste erfuhren beispielsweise, dass die europäische Geschichtsschreibung nur die halbe Wahrheit zeigt.

Weilimdorf - Die Terroranschläge vom 11. September haben dem lange schwelenden Misstrauen gegenüber dem Islam neue Nahrung gegeben. Historiker und Orientalist Matthias Hofmann räumte bei seinem Vortrag für den Weilimdorfer Kulturkreis jedoch gründlich mit den Vorurteilen auf: Vieles in der europäischen Kultur sei entscheidend von orientalischen Einflüssen geprägt: Die Abkehr von den römischen Ziffern und die Einführung der arabischen Zahlen hätten Mathematik oder Statik überhaupt erst möglich gemacht – so seien viele gotische Kirchen noch nach dem Prinzip Versuch und Irrtum erbaut worden.

 

Vermittler zwischen den Kulturen

Hofmann hatte noch mehr Beispiele parat: Die ersten brauchbaren Weltkarten stammten etwa aus der arabischen Welt; das Wort „orientieren“ erinnere bis heute daran. Und viel Arabisches sei in die Alltagskultur eingegangen, ohne dass man sich dessen heute bewusst ist – etwa die Genussmittel Kaffee, Alkohol oder Zucker. Überdies stritten sich die Fachleute noch immer, ob es zuerst den Kirchturm oder das Minarett gegeben habe: Entstanden sei beides etwa zur gleichen Zeit und die beiden Kulturen hätten klar von voneinander abgekupfert. Hofmann hat Erfahrung damit, im Schatten von Halbmond und Kreuz zwischen den Kulturen zu vermitteln: Zweimal war er für je ein halbes Jahr vor Ort in Afghanistan und hat als Berater für die Bundeswehr Soldaten auf ihren Einsatz vorbereitet. Ein wenig war dies auch im Weilimdorf zu spüren: Ein flapsiger Spruch hier, ein wenig Ironie dort – und immer alles treffsicher auf den Punkt bringen vor der Truppe. Das war andererseits aber auch notwendig, denn der Abend führte immerhin im Schnelldurchlauf von Byzanz bis in die Gegenwart.

Nur die halbe Wahrheit

Die Gäste erfuhren dabei Interessantes: Dass die europäische Geschichtsschreibung nur die halbe Wahrheit, nämlich die christliche Perspektive zeige. Und dass im europäischen Mittelalter viel Wissen verloren gegangen ist – von der Medizin bis zum Bau von Wasserleitungen, den die Römer ja noch meisterhaft beherrscht hatten. Der Grund: Das Christentum habe als neue Staatsreligion schnell die Kontrolle über nahezu alle Bereiche des täglichen Lebens errungen– und alle vermeintlich heidnischen Einflüsse und Erkenntnisse ausgemerzt. Hinzu kam, dass Wissen seit der Völkerwanderung kaum noch schriftlich festgehalten wurde. Ganz anders dagegen in der arabischen Kultur: Aus dem maurischen Spanien sind riesige Bibliotheken überliefert, in denen die Erkenntnisse der Wissenschaften und der klassischen Philosophie erhalten blieben und weiterentwickelt wurden – und erst über Umwege (wieder) nach Europa gelangten.

Manches lässt sich nun in der Stadtteilbibliothek nachlesen: Es gibt einen Büchertisch zum Thema Orient, und auch die Literaturklassiker „Der Name der Rose“ von Umberto Eco und der gerade verfilmte „Medicus“ von Noah Gordon bieten interessante Einblicke. Etwas stand nach dem Vortrag aber weiter im Raum: Was lässt Gesellschaften stagnieren – egal ob im mittelalterlichen Europa oder in den von der islamischen Scharia geprägten Ländern? Ist es die Verquickung von Staat und Religion, mangelnder Austausch, fehlende Bildung oder nachlassende Wachsamkeit? Und das ist die eigentlich spannende Frage.