Winfried Kretschmann hat einen Politikwechsel versprochen. Der kann nach dem Sieg von Grün-Rot bei der Landtagswahl nun Wirklichkeit werden.

Stuttgart - Winfried, Winfried" rufen die Grünen-Anhänger, "hey, hey, hey" klatschen sie rhythmisch und jubeln begeistert. Es ist eine Huldigung in einer Partei, die nicht zum Personenkult neigt. Es drängeln sich die Journalisten, Kameraleute und Fotografen in einem bei der Daueroppositionspartei bisher nie gekannten Ausmaß. Zum ersten Mal bahnen Bodyguards den Weg für Winfried Kretschmann, den strahlenden Wahlsieger. Die Personenschützer haben die Grünen selbst engagiert, so schnell geht es nicht mit den Statussymbolen im Land.

 

Dann, endlich, gegen halb sieben, erreicht der Star des Abends die Bühne bei der Wahlparty im Gebäude des Württembergischen Kunstvereins. Er steht da, beide Arme in Siegerpose hochgereckt, lächelnd und lässt sich feiern. Beinahe nach jedem Satz wird er von Beifall unterbrochen, es wird gekreischt und getobt, als ob ein Popstar ins Rampenlicht getreten wäre. "Liebe Freundinnen und Freunde, wir haben so etwas wie einen historischen Wahlsieg errungen", sagt der Mann, auf den alle Blicke gerichtet sind, und seine Mitstreiter sind begeistert. "Wir werden in diesem Land zusammen mit der Bevölkerung einen Politikwechsel einleiten", verspricht Kretschmann, und wird wieder von anhaltendem Jubel unterbrochen. "Jetzt geht's los" und "oben bleiben", den Schlachtruf der Stuttgart-21- Gegner, skandieren sie im Saal und entlassen ihren Helden, der bei seiner Kandidatur nicht unumstritten war, in den Landtag, zum Interviewmarathon durch die Fernsehstationen.

Die Euphorie kennt keine Grenzen

Da wiederholt der bald erste grüne Ministerpräsident mit geringen Abweichungen, dass es eine historische Zäsur sei, zusammen mit der SPD Baden-Württemberg regieren zu können. Welche Signalwirkung der Sieg der Grünen denn auf die Bundespolitik habe, wird er gefragt und seine Antwort fällt gewohnt zurückhaltend aus: "Das ist eine Landtagswahl, die hat zuerst mal eine Auswirkung auf das Land." Aber er hoffe, dass der Umgang der Grünen mit der Atomenergie seine Wirkung nicht verfehle. Doch erst mal sei der Tag gekommen, "das historische Wahlergebnis zu feiern". Zu Sachfragen gibt der Politiker, der seine Besonnenheit hochhält, selbstverständlich am Wahlabend keine Auskunft. Auch nicht dazu, was aus dem Bahnprojekt Stuttgart 21 wird. Gearbeitet wird ab Montag. Eines aber ist ihm wichtig: "Wir profitieren nicht von der Katastrophe in Japan. Wir sind für unsere Politik gewählt worden."

Die Euphorie kennt am frühen Abend keine Grenzen. Das hätte niemand für möglich gehalten, dass Grün-Rot der CDU die Regierung abjagen könnte. Silke Krebs, die Landesvorsitzende kann es noch gar nicht fassen. "Morgen" wird sie es möglicherweise glauben, sagt sie. Monika Schnaitmann, ebenfalls einmal Landesvorsitzende der Grünen, ist extra aus Tübingen angereist: "Ich muss meinem Landesvater die Hand drücken", sagt sie und wartet im Landtag, bis wieder eine Interviewrunde vorüber ist und sie dem Mann gratulieren kann, dem sie unbedingte Glaubwürdigkeit zuschreibt. Andreas Braun, ebenfalls früherer Landesvorsitzender, ist mit der Partei durch Höhen und Tiefen gegangen: "Hammer", ist sein Kommentar. "Das Brett war arg dick zu bohren."

Zum ersten Mal Dirketmandate

Es ist ein einziges Umarmen und Gratulieren. Zahlreiche Bundestagsabgeordnete geben sich ein Stelldichein. Rezzo Schlauch bahnt Kretschmann den Weg vor die Kameras. Winne Hermann, der Verkehrspolitiker, sagt, "30 Jahre lang haben wir dafür gearbeitet. Dass es nun endlich klappt, berührt mich sehr". Das Land hat sich gewandelt, analysiert Hermann. Er macht eine neue "Aktivbürgerschaft" aus, die "die flachen Sprüche von CDU und FDP nicht mehr ertragen kann".

"Die Leute haben Geschichte geschrieben, und wir sind mitten drin", freut sich der Bundestagsabgeordnete Alexander Bonde. Nebenbei spricht sich herum, dass die Grünen zum ersten Mal Direktmandate erreicht haben, und dann gleich neun. "Ab heute müssen wir verhandeln, damit wir auch die Regierung hinkriegen, die den Ansprüchen gerecht wird", findet Bonde.

Die Kretschmanns geben sich bescheiden

Skeptisch bis zuletzt bleibt dagegen der Tübinger Oberbürgermeister und studierte Mathematiker Boris Palmer. Noch sei nichts gewonnen, sagt er, als sich seine Parteifreunde längst umarmen. Zwischendurch lag Rot-Grün nur einen Sitz vor Schwarz-Gelb. "Viel Spaß bei der Ministerpräsidentenwahl", tönt da Wolfgang Reinhart, der Nochminister im Vorübergehen. Allmählich stabilisiert sich das Ergebnis. Vier Sitze liegt Grün-Rot vorn. Biggi Bender, die grüne Bundestagsabgeordnete, feiert bei Lasagne im Landtagsfoyer die Zeitenwende. Die Grünen hätten den Sieg allemal verdient, sagt sie. "Das ist das Ergebnis von 30 Jahren konstruktiver Oppositionsarbeit." Der verlässliche Spitzenpolitiker habe bei den Bürgern im Land ganz klar punkten können, sagt Bender. "Kretschmann ist ein Kandidat, zu dem die Leute Vertrauen hatten. Er taugte nicht als Bürgerschreck. Mit ihm an der Spitze werden wir das Kind schon schaukeln."

"Wer Ministerpräsident wird, entscheidet der Landtag", erklärt Kretschmann, der auch in der Stunde des Triumphs den Respekt vor dem Souverän nicht verliert. Eine einzige Stimme liegt Grün vor Rot. Die Wahl folgt im Mai.

Kein bisschen aufgeregt wirkt die Familie des künftigen Landeschefs. Gerlinde Kretschmann ist bestens gelaunt mit ihren beiden Söhnen Albrecht und Johannes in den Landtag gekommen. Johannes Kretschmann (32) tut nonchalant. "Für uns ist das nichts Ungewöhnliches, unser Vater wird alle fünf Jahre gewählt." Die Kretschmanns geben sich ausgesprochen bescheiden. Keiner hebt ab. Gerlinde Kretschmann behauptet, keinen Gedanken daran verschwendet zu haben, dass sie First Lady werden könnte. "Wann hätte ich denn das denken sollen. Wissen Sie, ich gehöre zu den Bodenständigen."