Wer Zeitungen zu den Wahlen nach 1945 durchblättert, entdeckt erstaunliche Parallelen zu heute. Dem ersten Landtag mit hundert Abgeordneten gehörten gerade sieben Frauen an. Und selbst das Wählen traute man ihnen noch nicht richtig zu.

Klima/Nachhaltigkeit : Thomas Faltin (fal)

Stuttgart - Nach Krieg und NS-Diktatur müssten die Menschen im Jahr 1946, bei den ersten beiden Landeswahlen im Südwesten, doch nach Demokratie und Mitbestimmung gelechzt haben – so würde man annehmen. Doch weit gefehlt. Die Beteiligung bei der Wahl zur Verfassungsgebenden Landesversammlung im Juni 1946 und bei den Landtagswahlen für Württemberg-Baden im November 1946 lag nur bei höchstens ordentlich zu nennenden 67,4 beziehungsweise 71,7 Prozent.

 

Die Menschen hatten 1946 andere Sorgen

Die US-Militärregierung war darüber ein wenig enttäuscht, denn sie hatte diese Wahlen als Demokratietest für die Deutschen insgesamt betrachtet, wie man Berichten der Stuttgarter Zeitung entnehmen kann. Doch die Menschen hatten ganz andere Sorgen. Einem Reporter der StZ sagte ein Mann im November 1946: „Ich wähle erst wieder, wenn ich eine handfeste Speisekarte vor mir liegen habe.“ Das Essen war knapp, die Stuttgarter sammelten in den Wäldern Bucheckern, und der furchtbare Hungerwinter 1946 stand noch bevor.

Daneben waren wohl viele junge Menschen, die nichts anderes als den Nationalsozialismus kannten, orientierungslos. In der StZ schreibt der Reporter: „Die Jugend steht abseits, hat die Hände tief in die Taschen vergraben und resigniert. Ein junges Pärchen, das wir auf seinem Nachmittagsspaziergang ansprechen, erklärt uns: ‚Wir wählen nicht. Das ist nicht mehr unsere Angelegenheit. Es ist doch alles zwecklos.’“ Dabei lag das Leben doch vor ihnen.

Das Flüchtlingsproblem war das beherrschende Thema

Sowieso beherrschte damals ein anderes Thema die Schlagzeilen, das wir heute gut zu kennen scheinen: In den StZ-Ausgaben von 1946 ist immer wieder vom „Flüchtlingsproblem“ die Rede. Ministerpräsident Reinhold Maier beschreibt es in einer Rede in drastischen Worten – Deutschland liege in Trümmern, habe ein „Übermaß an Not“ zu bewältigen und müsse doch zusätzlich „Millionen und aber Millionen einströmender Deutscher aus den Ostländern“ verkraften.

Reinhold Maier wörtlich: „Wir sollen aber in den verbleibenden 60 Prozent der Wohnungen unsere alteingesessene Bevölkerung unterbringen und dazu noch hunderttausende weitere hilflose Menschen. Ein Rechnung, die nicht aufgehen kann. (...) Dieses Problem ist unlösbar. (...) Selbst das reichste Volk der Welt wäre außerstande, innerhalb der Frist eines Jahres zehn Millionen bettelarme Menschen bei sich aufzunehmen.“

Politiker wetterten gegen undemokratische Parteien

Auch in anderer Hinsicht wirken die frühen Landeswahlen in Baden-Württemberg gar nicht so fremd – so wetterten Politiker 1952, als das Land Baden-Württemberg geschaffen wurde, ebenfalls gegen undemokratische Parteien, die das Vertrauen der Wähler nicht verdienten. Gemeint war aber nicht nur die „Sozialistische Reichspartei Deutschlands“, die neonazistisch ausgerichtet war, sondern auch die KPD. Erstere erhielt 2,4 Prozent der Stimmen, zweitere sogar vier Sitze im neuen Landtag.

Der Alltag hatte die Menschen in der Nachkriegszeit fest im Griff, aber zumindest in den Zeitungen und im Landtag sprach man im November 1946 schon auch darüber, wie bedeutsam diese Wahl war; es war immerhin die Wahl des „ersten deutschen Parlaments“ überhaupt nach 1945. Es gab pathetische Artikel, zum Beispiel zur deutschen Flagge in Schwarz-Rot-Gold, die erstmals wieder über Stuttgart wehe und die demokratischen Grundwerte symbolisiere. Vermutlich der damalige Verleger der StZ, Josef Eberle, druckte am 27. November 1946 auf der ersten Zeitungsseite sogar ein Gedicht von sich über die Fahne ab – heute undenkbar. „Sieh, Volk, die alten Farben deiner Väter! / Du ließest sie von Buben feig bespei’n / Und wurdest an dir selber zum Verräter. / Sieh, Volk, sie wehen wieder, ernst und rein.“

Auch anderes erscheint uns heute seltsam. Der Stimmzettel im November 1946 galt zum Beispiel gleichzeitig für die Landtagswahl und für die Volksabstimmung über die Verfassung. Das verwirrte die Wähler: Fünf Prozent der Stimmzettel waren ungültig, auf weiteren 20 Prozent war nur eine von zwei Stimmen abgegeben.

Geradezu merkwürdig erscheint, wie beinahe frauenfrei die Landespolitik damals war. Dem ersten Landtag mit hundert Abgeordneten gehörten gerade sieben Frauen an. Und selbst das Wählen – immerhin konnten Frauen schon seit 1919 an die Urnen schreiten – traute man ihnen noch nicht richtig zu. In einem Bericht zur Landtagswahl 1952 steht zu lesen: „Für Frauen ist das Wählen noch immer etwas Ungewöhnliches und Feierliches. Ehefrauen zumal werden sich meistens nur in Begleitung Erwachsener, soll heißen: ihrer Männer, in die Wahllokale wagen. (...) Trotz genauester Instruktionen durch den wahlkundigen Gemahl weiß man doch nicht so recht, wo man das Kreuz hinmachen soll.“

Die SPD im Dauerhoch

Bei den Landtagswahlen bis 1972 war Stuttgart übrigens noch in fünf statt der heute üblichen vier Wahlkreise eingeteilt. Die SPD konnte sich bis 1972 nach allen Landtagswahlen als stärkste Partei in Stuttgart rühmen und erreichte bis zu 45 Prozent; 1960 und 1964 erlangte sie in Stuttgart alle fünf Direktmandate.

Eine Unsitte ist dagegen zum Glück aus der Mode gekommen: Früher war es üblich, dass die Parteien Wahlplakate auch auf private Hausfassaden klebten. Die Eigentümer, die nicht warten wollten, bis die „amtlichen Abkratzer“ kamen, mussten die Plakate deshalb auf eigene Faust einweichen und herunterschrubben.