Kein Mensch will mehr alt sein. Darüber und über die Folgen, auch in der Sprache, spricht ein Professor aus Ludwigsburg.

Ludwigsburg - Er beschäftigt sich als Wissenschaftler mit dem Alter und den Menschen in der dritten und vierten Lebensphase. Es gebe gute Gründe, die Bezeichnung „Senior“ abzulegen, meint Eckart Hammer. Was von der Werbung angefangen wurde, sei mittlerweile gesellschaftliche Realität geworden.

 
Herr Hammer, wie jung sind die 60- oder 70-Jährigen von heute? Ist man erst ab 90 alt?
Alt sind immer die anderen. Jeder will es werden, keiner will es sein. Gefühlt sind die 70-Jährigen von heute wie die 60-Jährigen von gestern – objektiv und subjektiv jünger.
Gibt es dafür auch Belege?
Es gibt Studien über den Gesundheitsstatus. Danach haben die Menschen heute fünf Jahre gewonnen gegenüber unseren Eltern im gleichen Alter.
Warum wollen die Menschen mit 68 oder 74 nicht mehr in den Seniorenklub?
Weil sie nicht alt sind. In der Gerontologie, also der Wissenschaft vom Alter, sprechen wir vom dritten und vierten Alter. Das dritte ist die Phase vom Beginn des Ruhestands bis etwa 80 oder 85 Jahren. Das eigentliche „Alter“ beginnt dann, wenn die Gebrechlichkeit losgeht, also so etwa ab Ende 70. Und wir reden eigentlich auch nicht mehr vom „Ruhestand“, sondern von der „Fortsetzung des Erwachsenenlebens nach der Berufstätigkeit“. In dieser Phase sind die Leute fit und aktiv, sie haben Zeit, reisen, fahren Ski und Rennrad.
Es gibt dafür den Begriff der „Best Agers“.
Der stammt aus der Werbewirtschaft. Damit spricht die Werbung die fitten Senioren zwischen 60 und 75 an – und nicht übers Alter. Ein anderer neuer Begriff der Werbewirtschaft heißt „Silver Consumer“. Auch der soll positiv sein.
Drückt der neue Sprachgebrauch das Lebensgefühl aus, das Lebensgefühl einer ganzen Generation?
Sobald Sie als alt bezeichnet werden, laufen Sie Gefahr, dass Ihnen der Erwachsenenstatus abgesprochen wird. Sobald Sie den Stempel „alt“ bekommen, gelten andere Gesetze. Dann entscheiden junge Menschen über Sie. Es gibt gute Gründe, den Titel „Senior“ abzulegen. Die meisten Menschen bevorzugen den Begriff „älter“, was paradoxerweise weniger alt klingt als „alt“.
Restaurants, die es gut meinen, bieten auch „Seniorenteller“ an.
Dahinter verbirgt sich die Unterstellung „diese Gäste essen weniger und haben weniger Geld“. Die Seniorenteller sind oft schon verschwunden, dafür werden „halbe Portionen“ angeboten. Oder schauen wir in die Volkshochschule. Dort gibt es den Kurs „Englisch für Ältere“. Dessen Inhalt hat aber nichts mit dem Alter zu tun, sondern mit dem Lerntempo. Dafür entscheidet sich vielleicht auch der 40-Jährige.
Ist der Sprachgebrauch von der sozialen Schichtung abhängig?
In gewisser Weise schon. Je mächtiger und wohlhabender Sie sind, desto weniger „alt“ geben Sie sich – und desto größer kann auch der Altersabstand zur Partnerin sein. Oder schauen Sie in große Firmen: die Konzernlenker beklagen sich über alte Belegschaften, Vorstände und Aufsichtsräte sind aber selbst zum Teil weit über 60.
Wird Wertschätzung im sprachlichen Begriff transportiert?
„Alter“ ist ein Schmuddelbegriff, nichts, was attraktiv ist. Früher war der Begriff „Senior“ positiv gemeint. Das ist verschwunden. Heute heißt es in der Öffentlichkeit: „Sei stolz darauf, jünger auszusehen.“ Das ist fatal und Unfug. Wenn eine Frau 20 Jahre jünger erscheint als sie ist, ist es ein Verdienst der Kosmetik oder der Chirurgie. Was sagen Sie, wenn Sie gefragt werden ,wie alt schätzt du mich’? Dann tun Sie gut, von Ihrer Schätzung zehn Jahre abzuziehen. Wir bekommen selten die Botschaft, dass ein 85-Jähriger wie 85 aussieht und fit ist. Ein positives Beispiel war Helmut Schmidt mit seinen 96.
Was bedeutet all dies für die Kommunen? Die Stadt Ditzingen schafft eine Ganztages-Fachstelle für kommunale Seniorenarbeit.
Wenn die Stadt die Stelle so benennt, ist das zielgruppenorientiert, auf die Schattenseite des Alters bezogen – Pflegeheim und Demenz. Es gibt genug Menschen, die nicht mehr aus dem Haus kommen und oft vergessen werden. Diese haben kommunale Fürsorge besonders nötig, ebenso wie die pflegenden Angehörigen. Wenn das geschieht, ist es ein guter Impuls. 70-Jährige brauchen noch keine Seniorenarbeit.
Und wie beurteilen Sie die Umbenennung der Gerlinger Gerlinger Gruppe „-60+“ in „Gemeinde erleben“?
Diese Umtitulierung ist nicht nur gut, weil der Begriff „alt“ oder die Verbindung zum „Senior“ weg ist. Der neue Begriff schafft positive Assoziation und er beinhaltet zwei positive Begriffe. „Gemeinde erleben“ ist viel einladender und deshalb besser.