Mehr als tausend Familien müssen den Torre de David in der venezolanischen Hauptstadt Caracas verlassen. Die Bauruine – einst geplant als Prestigeprojekt und Schaltzentrale einer Großbank – galt als höchster Slum der Welt.

Korrespondenten: Klaus Ehringfeld (ehr)

Caracas - Die Habseligkeiten von Santiago Solís und seiner Familie passen in 24 graue Kartons. Sie stehen akkurat gestapelt im sechsten Stock des Parkhauses des Torre de David. Auf jeden einzelnen hat Solís mit blauem Filzstift seinen Namen geschrieben. Nun wartet er auf den Möbelwagen. „Es war schon schön hier“, sagt der 34-jährige Familienvater mit einem Anflug von Wehmut. „Nur ein bisschen gefährlich“, ergänzt er und erzählt dann, dass eine seiner Nichten aus dem elften Stock des Gebäudes gefallen sei.

 

Solís, seine Frau und ihre zwei Kinder wohnten fünf Jahre im Turm des David, jener 192 Meter hohen Bauruine im Herzen von Caracas, die zu einem weltweit beachteten Hausbesetzer-Kollektiv wurde. Ein Wolkenkratzer mit 45 Stockwerken, der nie fertig wurde, ohne Aufzüge, ohne Geländer und nur wenigen Fensterscheiben. Der Turm, so sagten viele Menschen in Caracas, sei ein Ort des Chaos gewesen, ein Hort des Verbrechens, ein senkrechter Slum. Andere fanden, er sei schlicht eine Reaktion auf die Wohnungsnot und die Missstände in der venezolanischen Hauptstadt gewesen.

Ein Provisorium zwischen Gerüsten und Wäscheleinen

Geländer und Aufzüge gab es nicht, auch kaum Fensterscheiben. Foto: AFP

Tausende lebten in diesem Provisorium, zwischen Gerüsten und Tüchern, mit Satellitenschüsseln und Wäscheleinen, die in atemberaubender Höhe gespannt wurden.   Alles wirkte stets improvisiert. Nur der Heliport ganz oben auf dem Dach des Wolkenkratzers erinnert noch an die hochfliegenden Pläne des Finanzinvestors und Namensgebers David Brillembourg. Anfang der Neunziger plante dieser den Turm als Schaltzentrale einer Großbank. Das Centro Financiero Confinanzas war als Bürokomplex mit Hotel und Hochgarage angelegt. Dann kamen die Krise, der Konkurs und der Krebs. David Brillembourg starb 1993 und mit ihm ein Jahr später sein Megaprojekt. Der Staat übernahm die Ruine. Mehr als ein Jahrzehnt stand der Turm ungenutzt herum, während die Hälfte der Venezolaner in Armutsvierteln haust.  

Dann kamen an einem Samstag im Oktober vor sieben Jahren die Squatter: Menschen ohne ein vernünftiges Dach über dem Kopf verschafften sich Zutritt zur Betonruine und besetzten sie. Nach und nach bevölkerten immer mehr Familien die Stockwerke. Am Ende hatten sie sich bis in die 28. Etage vorgearbeitet.

Zentral gelegen, selbstverwaltet und politisch gefördert

Jetzt müssen die Bewohner ihre Sachen packen. Foto: AFP

Familie Solís kam 2009 dazu. Sie richtete sich im sechsten Stock ein, linker Flügel, vierte Wohnung rechts. Sie war großzügig, bestand aus Wohnküche, Schlafzimmer, Bad und Kinderzimmer. Die Wände haben sie selbst eingezogen, die Dusche und die Toilette eigenhändig in das Bad eingebaut.   Die Solís fühlten sich wohl in dem skurrilen Turm mitten in der Hauptstadt. Der neue Wohnsitz kostete ja auch keine Miete, er war zentral gelegen, selbstverwaltet und politisch gefördert von Hugo Chávez, dem linksnationalistischen Präsidenten.  

Sein Nachfolger Nicolás Maduro hat das Projekt dann praktisch über Nacht für beendet erklärt. Offiziell heißt es, die bewohnte Hochhausruine sei viel zu gefährlich für die Bewohner. Inoffiziell berichtet die venezolanische Presse, dass die Regierung den Turm chinesischen Investoren überlassen habe. Die Asiaten wollten den Torre wie geplant als Finanzzentrum zu Ende bauen, heißt es.   Jedenfalls werden die auf 28 Stockwerken verteilten 1156 Familien seit Anfang der Woche umgesiedelt.

Das Wort „Räumung“ findet der zuständige Minister Ernesto Villegas nicht ganz angemessen. „Das ist eine koordinierte Aktion in Übereinstimmung mit den Bewohnern“, sagte er im Fernsehen und unterstrich, dass die Familien neue Unterkünfte im Rahmen des staatlichen Wohnungsbauprogramms Misión Vivienda bekämen. Was der Politiker, der den Titel des „Ministers für die Transformation von Caracas“ trägt, nicht sagte: Die neuen Wohnungen liegen 65 Kilometer vor den Toren der Acht-Millionen-Metropole. Manche Bewohner des Turms werden sogar in andere Bundesstaaten verfrachtet.  

Das neue Zuhause ist zwei Stunden Fahrt entfernt

Solís und seine Familie gehören zu den ersten 77 Familien, die das Hochhaus verlassen. Er habe seinen Frieden damit geschlossen, sagt Solís, spätestens seit dem Wasserrohrbruch, der vor ein paar Tagen die Wohnung knietief mit Abwasser überschwemmt habe. Jetzt stapelt er gemeinsam mit Soldaten die letzten Kartons in den Möbelwagen. Dann steigt er mit seiner Frau und den beiden Kindern in den Bus, der ihn in sein neues Heim nach Ciudad Zamora bringen soll. Es ist mehr als zwei Stunden Fahrt entfernt.

Nach und nach wird der halb fertige und halb bewohnte Wolkenkratzer im Zentrum von Caracas entvölkert. Innerhalb von wenigen Tagen soll der Massenauszug abgeschlossen sein. Soldaten patrouillieren regelmäßig durch die Ruine. Sie sollen verhindern, dass sich im Torre de David neue Hausbesetzer niederlassen.

Hintergrund: weltweit beachtetes Wohnkonzept

Miete zahlte im Torre de David niemand. Die Bewohner entrichteten eine Art Hausgeld von umgerechnet 25 Euro, damit waren Wasser und Strom abgedeckt. Die Leitungen dafür hatten die Bewohner selbst gelegt. Der Torre de David war keine reine Obdachlosenunterkunft. Auch Anwälte, Banker, Feuerwehrmänner und Polizisten wohnten darin. Es gab kleine Krämerläden, Nagelstudios, Internetcafés und sogar eine Zahnarztpraxis. In der Bauruine wurde ein Teil der dritten Staffel der US-Serie „Homeland“ gedreht. Auch Architekten filmten den Ort, um ein mögliches Wohnmodell der Zukunft in den Metropolen der Schwellenländer zu präsentieren.