Bei einer Fahrt mit der Zahnradbahn erzählt Gerhard Mayer-Vorfelder über die Hoch- und Tiefpunkte seines Lebens. Der StZ-Sportchef Peter Stolterfoht hat ihn begleitet.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Peter Stolterfoht (sto)

Stuttgart - Gerhard Mayer-Vorfelder steht auf dem Marienplatz und sondiert die Lage. „Und damit fahren wir jetzt also nach Degerloch“, sagt der 79-Jährige und zeigt auf die in die Talstation einfahrende Zahnradbahn. Obwohl MV nun schon seit mehr als 50 Jahren in Stuttgart lebt, ist es sein erster Kontakt mit der Zacke, die er zunächst noch „Trampe“ nennt. Als eingeheirateter Cannstatter sei ihm das verziehen. Zumal öffentliche Verkehrsmittel bisher keine allzu große Rolle im Leben des gebürtigen Badeners gespielt haben.

 

Beim Politiker und Fußballfunktionär war das Auto immer erste Wahl – der Dienstwagen Arbeitsplatz und der Fahrer enger Mitarbeiter. Zum Zahnradbahn-Gespräch wird Mayer-Vorfelder von Jochen Rücker chauffiert, dem ehemaligen VfB-Torwarttrainer und Freund der Familie. „Ich freue mich auf die Fahrt und alles was dazugehört“, sagt Mayer-Vorfelder zum Gesprächsplan. Und der sieht vor, auf dem Weg hoch nach Degerloch über das Auf in seiner Karriere zu sprechen und zurück in Richtung Marienplatz über das Ab.

Keine Berührungsängste

Gut gelaunt steigt MV in die Zacke. Berührungsängste in der ungewohnten Umgebung kennt er nicht und wünscht allen Mitreisenden erst einmal einen guten Tag und eine gute Fahrt, um sich dann ganz auf das vorgegebene Thema von Höhepunkten und Tiefpunkten zu konzentrieren.

30 Höhenmeter später – an der Haltestelle Liststraße – ist Mayer-Vorfelder schon mitten im Thema und berichtet am Fuß der Alten Weinsteige von einer steilen politischen Karriere, die er einst als persönlicher Referent von Stuttgarts damaligem Oberbürgermeister Manfred Rommel begonnen hat. Weiter ging es für den selbst zu damaligen CDU-Zeiten als erzkonservativ geltenden MV als Staatssekretär. „Und dann kam 1980 der erste politische Höhepunkt“, sagt Mayer-Vorfelder, „meine Ernennung zum baden-württembergischen Minister.“

In der Regierung von Lothar Späth übernahm MV das Ressort Kultus und Sport. „Aber das war eher Zufall“, erinnert sich Mayer-Vorfelder: „Späth fragte mich, welchen Ministerposten ich übernehmen wolle. Innenminister, antwortete ich. Die Position war aber schon besetzt, ebenso wie das Finanzministerium, meine zweite Wahl. Als mich Späth fragte, was es denn sonst noch für Ressorts gebe, fiel mir in diesem Moment nur noch Kultus und Sport ein. Und Lothar Späth meinte: ‚Gute Idee, des machsch.‘“

Chef von 30 000 zum Großteil linksgestrickten Lehrern

Die Begeisterung über die Entscheidung hielt sich beim neuen Minister in Grenzen: „Ich dachte mir damals: 30 000 zum Großteil linksgestrickte Lehrer, das kann mit mir als obersten Dienstherr eigentlich nicht gutgehen. Aber dann hat mir das Geschäft einen saumäßigen Spaß gemacht: der Kontakt mit den Menschen, der offen und ehrlich geführte Streit über Inhalte.“ Der Reserveoffizier MV nennt die nicht hintenrum geführte Konfrontation „offene Feldschlacht“ und die Zeit als Kultusminister die beste seiner politischen Karriere – von ihm selbst auch deutlich höher eingestuft als die folgende als Finanzminister.

„Wie lange dauert die Fahrt nach oben noch ?“ Auf halbem Weg – an der Haltestelle Wielandshöhe – spürt Mayer-Vorfelder Zeitdruck, als das Gespräch in Richtung sportliche Höhepunkte umgeleitet werden soll. „Nur noch fünf Minuten? Da bringe ich nicht alles unter“, meint er. Als ihm die Möglichkeit eröffnet wird, nach der Rückkehr zum Marienplatz im Café Kaiserbau weiter ins Detail zu gehen, ist er beruhigt.

Und dann kramt MV in VfB-Erinnerungen, und in der Zacke kommt ihm eine Busfahrt in den Sinn, die im Mai 1977 ihren Lauf nahm. Der VfB hatte soeben die Schmach des Abstiegs getilgt. Ein 0:0 in Trier bedeutet die Rückkehr in die erste Bundesliga, aus der der Verein zwei Jahre zuvor abgestiegen war – mit dem gerade erst zum neuen Präsidenten gewählten Gerhard Mayer-Vorfelder. „Auf der Fahrt von Trier zurück nach Stuttgart hielten wir an jeder Raststätte, um die Getränkevorräte aufzufüllen“, erzählt MV. „Und danach sind alle zusammen in Stuttgart noch um die Häuser gezogen. Ich war allerdings nicht dabei. Meine Frau hat mich nach der Ankunft aus dem Verkehr gezogen. War ja vielleicht auch besser so.“

Die zwei gewonnenen Meisterschaften sind unvergessen

Das war dann der Beginn der großen MV-Zeit beim VfB. Er war Präsident, Manager und Spielerberater in Personalunion. „Das hat mir gefallen, ich bin zum Beispiel selbst nach Ravensburg gefahren, um Hermann Ohlicher zu verpflichten. Ein ganz feiner Kerl, übrigens. Den könnte ich doch mal wieder anrufen“, sagt Mayer-Vorfelder, als die Zahnradbahn am Degerlocher Albplatz nach 2,2 Kilometern auf 470 Meter Höhe angekommen ist. Fünf Minuten Pause, bevor es wieder runter in den Kessel geht – aber nicht für Mayer-Vorfelder, der den Zahnradbahnstillstand nutzt, um über weitere sportliche Höhepunkte zu sprechen: die VfB-Meisterschaften 1984 und 1992, die in seine Amtszeit fielen, und die beiden Europacup-Endspiele gegen Neapel und Chelsea. „In Neapel wurden wir vom griechischen Schiedsrichter verschoben, und in Stockholm gegen Chelsea hätten wir gewinnen müssen“, sagt Mayer-Vorfelder und leitet mit dem Beginn der Talfahrt planmäßig zu seinen Tiefpunkten über.

An der Haltestelle Nägelestraße sagt Mayer-Vorfelder: „Ich bin aber mit mir und meinen Widersachern im Reinen.“ Zu seinen Gegenspielern gehörte zum Beispiel Theo Zwanziger. Nach einer verkorksten EM 2004 probte der DFB-Schatzmeister Zwanziger den Aufstand gegen den DFB-Präsidenten Mayer-Vorfelder. „Über Mittelsmänner ließ er mir ausrichten, dass mein Führungsstil zu autoritär sei und ich mich nicht um die Belange der Amateure kümmern würde“, erinnert sich MV, „das fand ich natürlich nicht so gut, aber sollte ich mich deswegen lange aufregen?“ Und so bildeten Mayer-Vorfelder und Zwanziger bis 2006 einfach eine DFB-Doppelspitze.

Kurz vor der Haltestelle Haigst ist Gerhard Mayer-Vorfelder dann plötzlich nicht mehr ganz so entspannt. „Am Ende meiner VfB-Zeit wurde mir böse mitgespielt“, berichtet MV. Der Aufsichtsrat mit Heinz Bandke an der Spitze wandte sich vom Präsidenten ab. Der Vorwurf: MV habe den Verein an den finanziellen Abgrund geführt und sei beratungsresistent. „Ein Verein lässt sich nicht nach strengen finanziellen Vorgaben wie ein Wirtschaftsunternehmen führen“, sagt MV und spricht davon, dass beim VfB damals jahrzehntelange enge Freundschaften zerbrochen seien.

Pfiffe, die einfach nur wehtun

Doch auch das konnte den Vollblutfunktionär nicht erschüttern, genauso wenig wie die Vorfelder-raus-Rufe, die ihn sein Fußballleben lang begleiteten. „Zu Erwin Staudt habe ich einmal gesagt, dass er sich als VfB-Präsident Gedanken machen müsse, weil die Fans bei ihm immer nur ,Vorstand raus‘ rufen. Meinen Namen haben sie immerhin gekannt.“

Doch einmal, da half Gerhard Mayer-Vorfelder weder Humor noch Selbstvertrauen weiter. „Als mich die Leute 2006 in Stuttgart beim WM-Spiel um Platz drei gnadenlos ausgepfiffen haben, das hat mich getroffen. Ich habe mich dafür eingesetzt, dass diese Partie hier stattfindet, und dann das. Die Leute müssen sich nicht bedanken, aber pfeifen auch nicht.“

Endstation Marienplatz. Im Café Kaiserbau geht bei Apfelsaftschorle und Schwarzwurzelsuppe die Gesprächsreise weiter. „Auf, wir reden noch ein bisschen, was sollen wir sonst mit dem angebrochenen Nachmittag machen“, fragt Gerhard Mayer-Vorfelder und grinst zufrieden.