Erstmals zeigt die Staatsoper Stuttgart eine Inszenierung von Christoph Marthaler. Die Übernahme von Jacques Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“ aus Madrid hat jetzt Premiere gehabt.

Stuttgart - Der Mensch des 21. Jahrhunderts ist ein Entwurzelter, ein Verworfener und oft Opfer – aber er ist auch Verderber der Welt. Da gleicht er dem Menschen vor hundert Jahren. Und weil das so ist, wie es ist, durchbricht der Regisseur Christoph Marthaler bei seinem Stuttgarter Operndebüt mit Jacques Offenbachs Opéra fantastique „Les Contes d’Hoffmann“ im Epilog den gesetzten musikalisch-dramatischen Verlauf, lässt die Stella-Figur einen Text des portugiesischen Dichters Fernando Pessoa rezitieren. „Ultimatum“, verfasst für die Zeitschrift „Portugal Futurista“ und dort 1917 erschienen, ist eine Anklage Europas. „Ich erhebe mich angesichts der untergehenden Sonne, und der Schatten meiner Verachtung legt sich wie Nacht über euch!“

 

Pessoa verzweifelt an einem Europa im Krieg: „Elendige Epoche der Zweitklassigen, der nur Annähernden, der Lakaien mit Ansprüchen von Lakaien auf Lakaien-Könige . . . Schleicht euch, ihr Radikalisten des wenigen, ihr Unbedarften des Fortschritts, mit eurem Unwissen als Säule der Kühnheit und eurem Unvermögen als Stützpfeiler der Neo-Theorien! Schleicht euch, Ameisen-Giganten . . .“

Das ist ein starker Text, mit dem ein Riss entsteht, durch den ein Moment des Politischen in diese seltsam pathologische Sehnsucht-Säufer-Schaffenskrise-Story hereinblitzt – und in diesem Licht steht Hoffmann mit seinem Liebesgelalle ziemlich funzelig da. Würde Pessoa nur besser zur Geltung kommen. Denn die auch für die Choreografie verantwortliche Altea Garrido deklamiert ihn in spanischer Übersetzung, ein Zugeständnis an das erste Publikum, die Marthaler-Inszenierung der französisch gesungenen Oper ist im Mai 2014 am Teatro Real in Madrid herausgekommen – konsequenterweise wäre deutsch die Wahl der Stunde gewesen. So legen die Stuttgarter für die eilig dahinflitzenden Übertitel den Kopf in den Nacken.

Auch gesprochen vorstellbar

Dennoch: ein Coup an diesem recht gemächlich Gewicht zulegenden Abend. Er zeigt zugleich, dass die Oper auch mit gesprochenen Dialogen vorstellbar ist, wie bei den ersten Aufführungen. Offenbach starb vor der Uraufführung, er hinterließ den wohl gewaltigsten Torso der Operngeschichte. Doch in Stuttgart wird „Hoffmann“ mit den von Ernest Guiraud komplettierten Rezitativen aufgeführt, auch neueste Funde und Fassungen von Michael Kaye und Jean-Christophe Keck werden (aus Kostengründen?) nicht berücksichtigt. Der Verlust ist in der Mordszene des Venedig-Akts spürbar, wo ein Melodram die Szene weiten würde – auch im Sinne von Marthalers offener Regie –, wirkt die Gesangsfassung jetzt konventionell. Der Dirigent Sylvain Cambreling hat immerhin in seiner Version die Doppelrolle von Muse und Nicklausse aufgewertet, in der vieles oft Gestrichenes restituiert ist (obwohl Sophie Marilley mit fadenscheinigem Mezzo darstellerisch ein viel weniger skurriles und beschwipstes Porträt der mürben Hoffmann-Stalkerin gelingt als Anne Sofie von Otter in Madrid).

Gemessen an der Höhe der hiesigen akribischen Stuttgarter Dramaturgieabteilung wäre da philologisch mehr drin gewesen. Merkwürdig, dass der Franzose Cambreling so wenig Sinn für den am Sprachduktus angelehnten trockenen, federnden Rhythmus hat, vieles verschleift ist, nicht präzise zusammen. Zwei Anläufe braucht es für die Vorhangakkorde zu Beginn des Antonia-Aktes bis beim dritten alles seine Ordnung hat. Doch im Gegensatz zu Madrid stehen Cambreling mit dem Staatsorchester und dem mal wieder hinreißend darstellungsstarken Chor (Einstudierung Christopher Heil) disziplinierte und klangvollere Ensembles zu Seite.

Spielort ist ein Saal amalgamiert aus Museum, Sanatorium, Hotellobby, Probensaal, Bar, Kunstakademie, in dem die Uhren keine Zeiger haben und man besser nicht wissen will, wohin die Türen führen (Bühne und Kostüme: Anna Viebrock). Wechselnde weibliche Akte dienen einigen Zeichenschülern als Modell, im Venedig-Bild stehen hier sechs Billardtische, einige taumelnde, wiederkehrend epileptisch zusammenklappende Kellner und Gäste wuseln umher. Aller Logik wird der Boden unter den Füßen entzogen, allerdings nicht immer zu so absurder Komik sich steigernd, dass die übliche traurige Marthaler’sche Humanität als ferner Grund fühlbar würde. Der Museumsführer Spalanzani im weißen Kittel erweist sich als spöttischer Regisseur, der die Figuren per Fernbedienung in Gang setzt, als Frankenstein, der mal ein Bein, einen Arm durch den Raum trägt, schließlich einen mit Tuch bedeckten Körper hereinrollt. Graham F. Valentine, das bewährte Mitglied der Entourage des Regisseurs, singt das Faktotum mit zwar schrundiger Chanson-Stimme, aber eindrucksvoll charakteristisch. Sein Geschöpf, die puppenhafte Olympia (Ana Durlovski mit glockigen Spitzentönen), ist mehr Hospitalisierte als Automatin.

Im Irrgang der Gefühle

Wie unter einem Schleier agieren die Figuren in einem Irrgang der Gefühle; allerdings hat man beim Hoffmann kaum den Eindruck, dass er an seiner unerfüllten Liebe, seiner kreativen Impotenz leide. Marc Laho gibt eher den gemütlichen Typ, stimmlich etwas neutral und nicht kaschierend, dass das eine Rolle ist, die Tenöre an ihre Grenzen führt. Mandy Fredrich als veilchen-blaue, sich zu Tode singende Antonia und Simone Schneider als Klischee-Kurtisane Giulietta gewinnen wenig Kontur und bleiben musikalisch unter ihren Möglichkeiten. Hoffmanns Gegenspieler und erotischer Rivale in vielerlei Gestalten, Alex Esposito als Lindorf, Coppélius, Miracle und Dapertutto, strömt mit imposantem Lava-Bariton über Nuancen hinweg, etwa über die unauthentische, aber fraglos herrlich-schöne „Diamanten“-Arie. Die hat vor genau hundert Jahren Joseph Schwarz subtil auf Schellack gebannt, und gezeigt, dass man mit Ohren oft mehr hört als was die Bühne zeigt. Wer sich auf Pessoa als Zeugen einer höheren Wahrheit beruft, muss diesen Vergleich ertragen. Kurzer heftiger, widerspruchsloser Applaus.