In einem Frankfurter Café treffen sich alte Menschen, erzählen Witze, hören Musik, streiten sich. Sie reden über Bienenstich und Birkenau. Sie alle eint die Erfahrung, ein Konzentrationslager überlebt zu haben. Ein Besuch im Holocaust-Café.

Frankfurt - Drei Damen an Tisch 3 beugen sich über den Bienenstich, „geht gar nicht“, sagt die eine. „Für die Mandeln braucht man eine Lupe“, seufzt die zweite. Die dritte ordnet ihren Seidenschal, sie hebt an zu einer Rede über fingerdicken Hefeteig und Karamell: „Nur ein kleiner Schuss Honig, unbedingt!“ Von drüben, der anderen Saalecke, schwebt der ungarische Csárdás aus einem Akkordeon der Marke Weltmeister heran. Wie leise er klingt. Das alte Volkslied streicht über die Köpfe an den vier langen Tischen hinweg, verliert sich unter der Holzdecke mit ihren Intarsien und geschnitzten Kuppeln.

 

„Auf dem Transport haben wir auch ständig über Kuchenrezepte geredet, so einen Hunger hatten wir“, fällt Nora O., 88, ein. „Wir auch“, sagt Lilly M., 89. Beide stammen aus einem Dorf in Ostpolen, „in Birkenau habe ich dich aber gar nicht gesehen“, sagt Nora O., sie hält eine Gabel hoch. „Dabei standen wir beide im Stau.“ Sie hatten schon die Haare geschoren, warteten vor der Gaskammer. Doch die war voll, es ging wieder zurück in die Baracken. „In Bergen-Belsen erst haben wir uns getroffen.“ Eine Tasse klirrt. Von rechts beugt sich eine Dame vor, die Wangen gerötet: „Könnten Sie mal anderes bereden als Kuchenrezepte?“

Die Gäste nennen den Ort einfach „Treffpunkt“

Dieses Café ist anders. Es ist wie ein exklusiver Club, nur hat niemand hier die Mitgliedschaft gewollt; der Preis ist hoch. Hastig nippt ein Mann mit Kahlkopf an seiner Tasse, er schaut zur Garderobe, als suche er etwas. Es riecht nach herbem Kaffee. Seinen Namen behält dieser kleine, kräftige Mann mit blitzenden Augen für sich. „Interessiert doch nicht“, sagt er, mag kaum darüber reden, dass er nicht polizeilich gemeldet ist, seit Jahrzehnten, dass ihn Erspartes schützt, aber keine Krankenversicherung. Die Leute hier im Café kennen nur seine Postfachadresse. Auf einer Liste will er niemals mehr stehen.

Die Gäste nennen diesen Ort einfach: Treffpunkt. Zärtlich streift im Vorbeigehen ein Herr mit seiner linken Hand die Schulter einer Dame am Tisch der „Golden Girls“, dort sind die besonders elegant Gekleideten. Gegenüber, an Tisch 2, sitzt Siegfried A. und schaut zu. „Der macht Schiddech“, lächelt er, „der sucht sich eine Frau“. Siegfried A. ist 89 Jahre alt, er stützt sich im Sitzen auf einen Stock. Wie jedes Mal hat er zum Besuch des Treffpunkts sein weißes Hemd gebügelt, den waldgrünen Einreiher aus der Plastikschutzhülle geholt und sich eine Krawatte doppelt geknotet. Er schiebt sein Kinn vor und erzählt einen Witz:

„Schmuel, was hast du im Radiogebäude gemacht?“

„Mi-mich u-um die Sch-sch-schtelle des A-Ansagers beworben“. „Und, hast du sie bekommen?“

„Nein, d-das s-sind a-alles A-a-antisemiten!“

Siegfried A. erzählt gern Witze, besonders wenn es Ärger gab, danach fühlt er sich besser. „Heute Vormittag habe ich mit meinem Nachbarn geplaudert. Der erzählte von seiner Bandscheiben-OP und sagte: ‚Ich wusste doch immer, dass die jüdischen Ärzte die besten sind.’“ Da passe er dann auf, „warum sagt er mir das? Ist das jetzt antisemitisch, oder spinne ich?“

Sie reden über ihre Familien und die NPD

Elf Muttersprachen ließen sich hier hören, aber gesprochen wird meist Deutsch. „Hier muss ich nichts erklären“, sagt Siegfried A., „hier wissen alle Bescheid.“ An den Tischen beugen sie sich vor, man schmunzelt. Siegfried A. wuchtet sich aus dem Stuhl, legt sanft seine beiden Zeigefinger auf den Tisch. Die Hornbrille weitet seine Augen. „Wollen wir tanzen, gnä’ Frau?“, blinzelt er seine Frau an. Anna A. lacht auf. Nein, die Beine tragen ihn nur schwer, zu schwer für die hastige Polka, die das Akkordeon anschlägt. Aber seine Grübchen entlang der Mundwinkel machen alles leicht, entzaubern ihr im Nu ein Lächeln. Wie damals, als sie sich beim Tanzen kennenlernten, es war im Jahr 1951. Siegfried A. schaut sie immer noch tief an, „na, mein Liebchen, das ist so“.

„Was?“

„Alles ist so.“

Rund vier Dutzend sitzen heute an den Tischen, „seit vergangener Woche sind fünf Stammgäste verstorben“, sagt Siegfried A. über den Tisch hinweg. Selten geht die Kundschaft noch außer Haus, zum Einkaufen oder zum Arzt; ihre Partner meist verstorben, die Kinder im Ausland.

Wenn die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden ihren Treffpunkt jeden Mittwochnachmittag in der Frankfurter Gründerzeitvilla öffnet, ist er für viele ein Highlight. Insgesamt rund 40 000 jüdische Überlebende des Holocaust gibt es in Deutschland – eine Schätzung der Gemeinden, denn die deutsche Bürokratie erfasst sie nicht. Überhaupt weiß man nicht viel über sie. Eine einzige Studie etwa gibt es in Deutschland, sie stammt aus den Achtzigern. Viele Cafégäste strandeten 1945 im Land der Täter, sie kamen in die „DP-Lager“ der Alliierten für Displaced Persons. Rund 184 000 Juden aus ganz Europa, durch die Verfolgungen heimatlos geworden, lebten noch 1947 in Deutschland in solchen Camps. 28 000 von ihnen blieben für immer hier.

Sie reden über ihre Familien und die NPD

Am Tisch der „Golden Girls“ haben alle ihre Smartphones gezückt. „Schaut, meine Urenkelin ist zwei Wochen alt“, sagt Manja B. und reicht das Telefon herum. „Was a Menschele!“ Außer über ihre Familien reden die fünf Damen – sie haben 14 Töchter und Söhne, 25 Enkel und 43 Urenkel – über die NPD. „Was ist da zu überlegen“, kommentiert eine stämmige Nachbarin links von Manja B. die Verbotsdebatte, „das sind doch Verbrecher.“ Als die Terrorzelle NSU aufflog, sagten viele ihren Kindern: Ihr müsst jetzt schnell aus Deutschland weg.

Überhaupt Deutschland: ein deutsches Auto habe sie nie gekauft, sagt Manja B. „Das geht nicht. Ich lebe gern hier. Aber ganz gemein kann ich mich nicht machen mit dem Land.“ Ihr Blick ruht auf einem Kaffeelöffel, aber der Kopf wiegt hin und her. Damals sei etwas passiert, sagt sie, womit niemand fertig wird. „Auch die Deutschen nicht.“ Die Displaced Persons von einst leben, als stünden die gepackten Koffer immer noch bereit. Manja B., Frankfurterin seit 1945, hat die kanadische und die israelische Staatsbürgerschaft. Die deutsche würde sie nie beantragen. „In Frankfurt bin ich immer gut behandelt worden, nie als Jüdin beschimpft worden.“ Beim Transport von Auschwitz nach Bergen-Belsen im offenen Waggon hatten alle sie gesehen. „Alle wussten es.“

Was viele Gäste des Cafés auch nicht von Deutschland haben wollen, ist Geld. „Emily, warte mal, was ist mit dem Ghetto-Rentenantrag?“, ruft eine Sozialarbeiterin der Dame mit Glockenhut nach. Langsam schreitet Emily P. strengen Blicks übers Parkett, das Haupt erhoben. Niemand soll merken, dass sie nur noch graue Schemen sieht. „Danke, kein Bedarf“, sagt die 92-Jährige. Mit den illegalen Papieren von damals lebt sie noch heute. Anspruch auf Entschädigung hat sie nie gestellt.

Kaffeefahrt an den Wannsee

Wohlhabend sind nur wenige. 30 Prozent der Cafégäste leben von Sozialhilfe oder Grundsicherung, die Hälfte von ihnen erhält weniger als 1000 Euro Rente. Beantragen, bitten, fällt ihnen schwer, es geht um ihre Unabhängigkeit. Zwei Sozialarbeiter und zwei Psychotherapeuten sitzen im Treffpunkt, alle vier sind Kinder von Überlebenden. Sie vermitteln Sozialdienste, klären die Gäste über Rechte auf, hören zu.

„Ist der Fahrer da?“ Emily P. strebt zum Ausgang, die Lippen zusammengekniffen. Sie hat sie sich mit ihrem Tischnachbarn gestritten. Ihr Stammplatz war besetzt, „eine Frechheit“, hatte sie laut gerufen und ihren Hut nach hinten gerückt.

„Die Juden interessieren nicht mehr. Jetzt gibt es die Türken.“

Leicht reizbar sind viele, angespannt; auch wenn manche Gäste stur und rau wirken. Da zucken plötzlich alle zusammen: Draußen wird ein Glascontainer entleert. Das Klirren will nicht enden, macht die Gesichter steif. Als der Lärm abbricht, lehnen sie sich zurück. Lilly M. schnippt einen Kuchenkrümel von der Tischdecke.

Vom Saaleck dringt jetzt ein Tango, „Ikh hav dikh tsuvil lib“, singen die „Golden Girls“ von Tisch 1, als das Ehepaar F. den Saal betritt. Es ist halb sechs. Sanft hilft Max seiner Alice aus dem Mantel. „Ach“, sagt er, setzt sich neben Siegfried A. und drückt den Rücken durch, „eine Geschichte nur über dieses Café? Die Juden interessieren doch nicht mehr. Jetzt gibt es die Türken. Schreiben Sie lieber, wie der Antijudaismus nach und nach gegen die Muslime übernommen wird. Das ist Ihre Geschichte.“ Max F. ist groß und drahtig gewachsen, er schüttelt den Kopf. Nein, er will nicht reden. Und ja, die Deutschen seien noch immer auf der Suche nach einem Sündenbock, einem sichtbaren. Jetzt redet er doch, hört gar nicht auf: Nichts habe sich geändert, sagt er. „Schauen Sie sich das Theater um Syrien an. Schon wieder wird nichts unternommen gegen Verfolgung und Massaker.“

Die Besucher des Treffpunkts sind stark und schwach zugleich – so schnell verletzt, so würdevoll. Siegfried A. erlaubt sich noch ein Stück Himbeertorte, unter strengem Blick seiner Anna. „Süßes bringt einen nicht um“, raunt er. Selbst der Tumor in seinem Kopf, der rührt sich seit Langem nicht. Siegfried A. legt einen Finger ans Kinn. „Mir ist egal, ob ich früher oder eher sterbe“, versucht er einen Scherz. Für einen langen Moment schweigen alle am Tisch.

„Ach Odessa, ...“

Max F. ergreift wieder das Wort. Viele Jahre lang sind Alice und Max F. in Schulen gegangen, haben geschildert, wie sie sich am ersten Tag im KZ kennengelernt und ineinander verliebt hatten. Wie sie am Ende die Todesmärsche weg von Auschwitz überlebten und er sie über das Rote Kreuz in einem Sanatorium in Skandinavien nach dem Krieg wiederfand. „Rechne nicht damit, dass ich mich scheiden lasse“, sagte er ihr bei der Hochzeit. Seit Jahren erhalten sie von keiner Schule mehr eine Einladung.

Manchmal verreist der ganze Treffpunkt, dann mieten die Sozialarbeiter einen Bus. Einmal ging es nach Berlin, da besichtigten sie die Villa, wo die Wannsee-Konferenz 1942 zur Detailplanung der „Endlösung der Judenfrage“ getagt hatte. Als die Reisegesellschaft längst wieder eingestiegen war, wartete man noch auf eine Caféseniorin – sie musste in der Villa aufs Klo. Zurück im Bus meinte sie: „Es war mir ein Vergnügen, hier zu scheißen.“

Das Akkordeon spielt den Rausschmeißer, eine dünne Frau steht auf und singt „Ach Odessa, wo ich geh, wo ich steh, denk ich nur an dich“. Die anderen nesteln schon an ihren Handtaschen, ziehen die Mäntel an und streben zur Tür. Als die Musik verstummt, raunt Siegfried A.: „Juden raus!“