Einmal Hölle und zurück: Mieciu Langer aus Tübingen war in fünf KZs, hat schreckliche Grausamkeiten gesehen. Am Holocaust-Gedenktag erzählt er seine Geschichte.

Reportage: Robin Szuttor (szu)

Tübingen - Sie wohnen in einem Tübinger Hochhaus. Einfach und gemütlich. Mieciu Langer, 84, macht Kaffee, dazu gibt es Butterkekse. Seine Frau Felicia – bunte Halskette und knallroter Lippenstift – führt den Gast ins Büro, wo die Wände mit ihren Auszeichnungen tapeziert sind: Alternativer Nobelpreis, Erich-Mühsam-Preis, Bundesverdienstkreuz, Ehrenbürgerurkunde der Stadt Nazareth. Vergangene Woche ist der höchste palästinensische Verdienstorden dazugekommen, persönlich überreicht von PLO-Chef Abbas. Die Regale sind voll gestopft mit Büchern, die meisten über Palästina. Ein Dutzend hat die 81-Jährige, die sechs Sprachen spricht, selbst geschrieben.

 

Als junges Mädchen sah Felicia in einer kasachischen Kleinstadt, wohin ihre Eltern mit ihrem einzigen Kind vor den Nazis geflohen waren, ein Sowjetplakat: „Was hast du heute für die Front getan?“ Sie machte diese Frage zu ihrem Leitmotiv: „Was hast du heute für deine Sache getan?“ Ihre Sache ist die Gerechtigkeit.

Sie wollte mehr wissen

Anfangs schreckte sie davor zurück, sich mit dem Holocaust zu beschäftigen. „Es wär ein Leichtes gewesen, mir meine Onkel, Tanten und Cousins irgendwo auf dem Planeten Treblinka vorzustellen, aber ich hab es von mir geschoben.“ Dann wollte sie doch mehr wissen. Auch von ihrem Mann, der durch die Nazihölle gegangen war.

Dürftig, mit betonter Lustlosigkeit hatte er immer auf ihre Fragen geantwortet. „Ich verdrängte instinktiv. Hätte ich mich auf die Trauer eingelassen, wäre viel Lebensqualität verloren gegangen“, sagt er heute. Nach Jahrzehnten brach er sein Schweigen. Monatelang, Nachmittag um Nachmittag, saß er mit seiner Frau auf der Couch, da wo sie jetzt auch sitzen. Sie fragte und fragte, er erzählte und erzählte – so nüchtern, als sei es einem anderen passiert. Sie weinte viel in dieser Zeit. „Einmal musste sie ganz abbrechen, an dem Tag konnte ich endlich in Ruhe ein Buch lesen“, sagt er. „Ich bin kein emotionaler Mensch, für Emotionen ist meine Frau zuständig.“ – „Ich wusste, dass der Tag kommen würde“, sagt sie, „an dem ich seine Geschichte zu Papier bringe.“ Die Geschichte des Mieciu Langer.

In den 30er Jahren ist sein Vater Direktor einer Krakauer Gummiwarenfirma, die zur deutschen F. W. Schweikert GmbH gehört. Die Langers leben gut, haben eine Haushaltshilfe, im Sommer machen sie Ferien auf dem Land. „Es war eine glückliche Kindheit in einer liebevollen Familie“, sagt Mieciu Langer. Mit Ausbruch des Kriegs 1939 flüchten viele Krakauer Juden in die Sowjetunion. Miecius Vater beschließt zu bleiben. Er war einige Jahre in Berlin, hat die Deutschen als Menschen mit Kultur und Moral kennengelernt. Es sei unmöglich, dass sich ein Volk so verändert, meint er.

Die erste Begegnung mit den Deutschen ist herzlich. Wehrmachtssoldaten geben Mieciu vom Feldkücheneintopf zu essen. Ein paar Tage später, auf dem Krakauer Boulevard, zeigt sich ein anderes Bild: Soldaten greifen sich orthodoxe Juden, schneiden ihnen feixend die Schläfenlocken ab. Mieciu ist zwölf, sein Bruder Arthur zehn. Es sind ihre letzten Kindheitstage.

Der Direktor rettet ihm das Leben

Schweikert entlässt Miecius’ Vater. Anweisung aus Deutschland. Bald heißt es, alle Juden müssen ihre Wohnungen verlassen. Die Langers ziehen zu einem polnischen Bauern. Für die Möbel ist kein Platz mehr. Wohnungsauflösungen, wohin man sieht. Eine Art Saisonschlussverkauf für alle nichtjüdischen Krakauer. Anfang 1941 müssen alle Juden ins Ghetto. Der Familie Langer wird eine Wohnung zugewiesen, in der 60 Menschen leben. Mieciu darf als Bote für die Firma Optima arbeiten.

Eines Tages ergeht der Befehl, sich zu versammeln. Selektion. Mieciu wird vom Vater getrennt und muss auf die Seite, wo die abgemagerten und von SS-Männern umringten Gestalten stehen. Plötzlich hört er die Stimme des Optima-Direktors: „Den Jungen hier brauche ich.“ Mieciu wird zurückgeschoben. Heute weiß er: „Alle Ausgemusterten kamen direkt nach Treblinka, der Direktor hat mir das Leben gerettet.“

Das Lager in Plaszow

Abends warten Vater und Sohn auf die Mutter und Arthur. Sie kommen nicht mehr. Folgendes muss sich abgespielt haben: Miecius’ Mutter, die sich im Stadtteil Podgorze einfinden sollte, musste an der Wohnung vorbei, wo man Arthur versteckt hielt. Sie muss die Deutschen gehört haben, wie sie über Lautsprecher verkündeten, das Ghetto werde judenrein gemacht und jeder getötet, der sich verstecke. Sie muss beschlossen haben, ihren Jungen mit sich zu nehmen. Als Arthur die Stimme der Mutter erkannte, muss er vorgekrochen und mit ihr gegangen sein. Ins Vernichtungslager.

Im März 1943 sollen die Einwohner des Krakauer Ghettos ins „Arbeitslager“ Plaszow. Mieciu und sein Vater sind gleich beim ersten Transport dabei. Ein Glück, wie sich herausstellt. So entgeht der Junge der Liquidation des Krakauer Ghettos am 13. März. Ein Mithäftling erzählt ihm später, was er dort erlebt hat: An jenem Tag wird der Befehl gegeben, sich zum Abtransport zu versammeln, Kinder unter 14 Jahren jedoch dazulassen, sie würden dann später nach Plaszow gebracht. Manche Leute, die Kleinkinder haben, verabreichen ihnen Schlafmittel und packen sie in ihre Rucksäcke. Manche gehen trotz Verbot mit ihren Kindern an der Hand zur Sammelstelle. Die Deutschen trennen sie mit Gewalt. Es spielen sich herzzerreißende Szenen ab: Kinder stehen, außer sich vor Angst, am Stacheldrahtzaun und flehen ihre Eltern an, sie nicht zu verlassen. Am nächsten Tag beginnt das Morden. Lastwagen fahren vor, die Kinder werden in Körbe geworfen, in irgendeine Sackgasse des Ghettos verfrachtet und erschossen.

Amon Göth, „der Schlächter von Plaszow“

Im Lager herrscht SS-Hauptsturmführer Amon Göth, „der Schlächter von Plaszow“. „Wenn er auftauchte, gab es Leichen“, sagt Langer. „Manchmal befahl er jemandem stehen zu bleiben, erschoss ihn und ging weiter, als sei nichts geschehen.“ Oder er erlegte von seinem Balkon aus die Häftlinge wie Damwild. Oder er ließ ausgepeitschte Menschen von seinen Doggen Alf und Ralf in Stücke reißen.

Mieciu erhält Arbeit in der Schlosserei. Einmal muss er in der Villa von Amon Göth Türschlösser austauschen. Auf einmal steht Göth vor ihm. „Ich stand stramm und schrie ,Achtung‘, so musste man reagieren, wenn SS-Leute erschienen.“ Göth antwortet „weitermachen“ und geht wieder.

Es gibt eine Gruppe von Häftlingen, die in Oskar Schindlers Emaillewarenfabrik arbeitet. Die Leute erzählen von den ausgezeichneten Bedingungen. Viele wollen in das neu errichtete Lager bei der Fabrik. Es gibt ein paar Juden, die die Arbeitsannahme organisieren, doch das kostet etwas. „Wir wussten nicht, wer das Geld erhielt, nahmen aber an, dass die Organisatoren es untereinander verteilten“, sagt Mieciu Langer. „Mein Vater versuchte, mit mir in der Fabrik aufgenommen zu werden. Aber wir hatten zu wenig Geld.“

Sein Schulkamerad wird gehängt

Eines Tages werden auf dem Appellplatz Galgen aufgestellt. Einer ist für Miecius Schulkameraden Stefan Haubenstock. Die Anklage: er hat das Lied „Katjuscha“ gepfiffen. Stefan fleht Amon Göth an, ihn nicht zu hängen. Er habe nicht beabsichtigt, jemanden zu verletzen, es tue ihm leid, er bitte um Entschuldigung. Göth bleibt unbeeindruckt. Als sie Stefan hängen, reißt der Strick. Er steht auf und bettelt erneut um Gnade. Beim zweiten Versuch hält das Seil.

Im Oktober 1943 wird Mieciu wieder selektiert. Sein Vater steht in der gleichen Reihe. Wohin wird ihr Weg führen? Nicht nach Auschwitz, nicht nach Treblinka. Nach Czestochowa zur Hugo Schneider AG – vor dem Krieg eine Textilfabrik, dann Produktionsstätte für Munition. Es folgt ein Jahr ohne Morde, ohne Peitschen. Für die beiden fast ein Erholungsjahr.

Die Hölle von Buchenwald

Im Dezember 1944 soll ein Teil der Lagerinsassen deportiert werden. Miecius Vater steht auf der Liste. Er bittet seinen Sohn mitzugehen. Eigentlich will Mieciu nicht an einen Ort, wo er dem Tod viel näher ist. Schließlich meldet er sich doch. Sie werden mit 120 anderen in einen Tierwaggon gedrückt. Nach drei Tagen ohne Essen erreichen sie das Ziel: Buchenwald.

SS-Männer treiben sie mit Schlägen ins Lager, scheren sie wie Vieh und sperren sie in eine Halle mit Duschköpfen. „Damals wussten wir bereits, dass die Deutschen Juden vergasen und die Gaskammern als Duschräume tarnen“, sagt Mieciu Langer. „Ich hatte Angst wie noch nie zuvor, und ich kann die Freude gar nicht in Worte fassen, als ich die ersten Wassertropfen spürte.“

Er muss im Steinbruch arbeiten. Erlebt kaum beschreibbare Erniedrigungen. Erschießungen sind an der Tagesordnung. Als im Februar 1945 Freiwillige für ein anderes Lager gesucht werden, meldet er sich – schlimmer kann es kaum kommen. Sein Vater fleht den Sohn an, bei ihm zu bleiben. Aber Mieciu will raus. „Für meinen Vater war es eine grausame Entscheidung, ich traf sie mit Leichtigkeit. Heute fühle ich tiefe Trauer über das, was ich ihm angetan habe.“ Später erzählt ein Häftling, er sei dem Vater auf dem berüchtigten Todesmarsch von Buchenwald begegnet. Er sei schwach gewesen und habe sich auf die Krankenstation melden wollen. Dort starben die Leute von selbst, oder sie wurden totgespritzt. „Wäre ich bei ihm gewesen, vielleicht hätte ich ihn zum Weitergehen ermutigen können“, sagt Mieciu Langer.

Transport nach Theresienstadt

Nächste Station: Rehmsdorf, eine Außenstelle des KZ Buchenwald. Zwangsarbeit für die Braunkohle AG. Die Häftlinge bekommen 100 Gramm Brot pro Tag. Mieciu teilt sich die Ration morgens in zwei Stücke: eines zum gleich essen, das andere für die Wassersuppe am Mittag. Bei einem Bombenangriff der Alliierten kriecht er unter ein Fuhrwerk und isst sofort seine zweite Brothälfte auf – dass sie ja nicht verloren geht, sollte er getroffen werden. „So denkt ein ausgehungerter Mensch“, sagt er. „Ich träumte nicht von Freiheit, ich träumte von einem runden frischen Laib Brot und einem scharfen Messer, und wie ich in einem Zimmer sitze und alle Zeit der Welt habe, das Brot zu essen.“ Die Wirklichkeit sieht so aus: bittere Kälte, Läuseplage, überall im Lager Tote, die vor Erschöpfung, an Hunger oder Krankheiten gestorben sind. Mieciu muss Bahnschienen verlegen. „Keine Ahnung, wie ich das in meinem abgemagerten Zustand noch geschafft habe.“

Anfang April 1945 werden die 2500 Rehmsdorfer Häftlinge in Güterwaggons verladen. Unterwegs fallen Bomben auf den Zug, alle flüchten in einen nahegelegenen Wald. Als die Flieger wieder abdrehen, rufen die SS-Leute nach ihren Häftlingen. Und die kommen tatsächlich zu ihren Peinigern zurückgekrochen.

Sie setzen ihren Weg zu Fuß fort, essen Gras, bekommen Durchfall. Miecius gleichaltriger Freund Hugo Gichner kann nicht mehr. Er setzt sich in den Straßengraben und wartet auf seinen SS-Henker. Nach zwölf Tagen erreichen sie das KZ Theresienstadt. 750 Leute sind noch übrig. Mieciu ist halb bewusstlos. „Ich ging wie ein Lunatiker, ich habe keinen Hunger mehr verspürt, ich spürte gar nichts mehr.“ Er hat keine Muskeln mehr, muss die Treppe der Seuchenstation auf allen Vieren erklettern. Auf dem Klo schaut er an sich herunter und weint. „Ich hatte keine Hoffnung mehr, jemals wieder wie ein Mensch auszusehen.“ Später hat er erfahren, dass fast alle, die mit ihm nach Theresienstadt gekommen sind, hingerichtet wurden. 75 bleiben übrig. Vor den Typhusjuden haben die Nazis so viel Angst, dass sie sie nicht mal erschießen.

Die Front rückt näher. Eines Tages schaut Mieciu aus dem Fenster auf den Hof. Alles leer. Am Mittag hält ein sowjetischer Panzer vor dem Tor. „Ich kann mich nicht erinnern, dass ich mich gefreut habe. Ich erinnere mich nur, dass eine breite, große russische Krankenschwester mich auf die Arme nahm wie einen Säugling.“ Mieciu wird regelrecht gemästet, er ist beliebt bei den Ärzten und Schwestern. „Sie behandelten mich wie einen Menschen. Durch ihre Freundlichkeit gaben sie mir meine Würde zurück“, sagt er. Bald wird er vom Krankenhaus in ein Genesungsheim verlegt. Irgendwann erfährt er, dass ein Transport nach Krakau organisiert wird. Wieder reist er im Güterwagen, aber dieses Mal als freier Mensch. Er ist jetzt 18 Jahre alt.

Zurück in Krakau

In Krakau landet er in einem Internat für jüdische Waisen und Halbwaisen. 1947 begegnet er dort Felicia. Deren Mutter nimmt ihn auf wie einen Sohn. Die drei bleiben zusammen, ziehen 1950 nach Israel. Er ändert seinen Namen in Mosche, macht Militärdienst, wird Verkaufsagent einer Handelsgesellschaft. Doch es ist nicht das gelobte Land, von dem sie träumten. Sie erleben ein Israel, das sich in ihren Augen wie eine Kolonialmacht aufführt. Das seine palästinensischen Nachbarn unterdrückt. Dessen moralische Werte erodieren. „Wie konnte ein Volk, das über Generationen verfolgt wurde und durch den Holocaust ging, so grausam und intolerant werden?“, fragt Felicia Langer.

Sie ist die erste israelische Anwältin, die Palästinenser aus besetzten Gebieten verteidigt, Morddrohungen sind die Folge. Sie verlässt das Haus nur mit Leibwächter, „der hatte mehr Angst als Felicia“, sagt ihr Mann. Sie sagt: „Viele Israelis haben die falsche Lehre aus dem Holocaust gezogen. Unsere Lehre heißt: nie mehr Entrechtung, nie mehr Unmenschlichkeit.“ 1990 schließt sie aus Protest ihre Kanzlei in Jerusalem. Die Langers ziehen nach Deutschland. Die Familie wächst. Heute haben sie fünf Enkel und einen Urenkel.

Sein Leben verdanke er dem Zufall, sagt Mieciu Langer. Und seinen Genen, die ihn mit großer seelischer Belastbarkeit ausgestattet haben. Er hat einen tiefsinnigen Humor. Einen Glauben hat er nicht. „Ich weiß nicht, ob Gott sich mit mir beschäftigt. Ich beschäftige mich jedenfalls nicht mit ihm.“

„Ich habe immer diese Krankenschwester vor Augen“, sagt Felicia Langer. „Sie trug Mieciu wie eine gute Mutter zurück ins Leben. Ich werde ihr immer dankbar sein.“