Der Streit über den neuen Bildungsplan an baden-württembergischen Schulen hat den Bundestag erreicht. Wie sehen Schüler in Stuttgart die Debatte?

Stuttgart - Jan und Savinien wollen es wissen. Jeden Morgen, wenn sie sich in der Schule treffen, fallen sie sich in die Arme und küssen sich. Was bei Mädchen akzeptiert sei, müsse auch für Jungs gelten, finden die Zehntklässler vom Stuttgarter Wagenburg-Gymnasium. „Das ist unser Kampf für Männerrechte“, scherzt Jan.

 

Die Fünftklässler gucken manchmal irritiert. Die Zehntklässler grinsen bloß. „Wahrscheinlich wäre es nicht so lustig, wenn Jan und Savinien schwul wären“, meint Manon nachdenklich. Tatsächlich könnten Homosexuelle sich durch solche Aktionen verletzt fühlen, gibt ein Mitschüler zu bedenken. In der 10c ist das Thema Akzeptanz sexueller Vielfalt angekommen.

Bereits im vergangenen Jahr hatte die grün-rote Landesregierung im Rahmen einer Bildungsplanreform neue Leitprinzipien für den Schulalltag definiert. Diese Prinzipien sollen fächerübergreifend in den Unterricht einfließen. Einem Entwurf zufolge sollen Schüler dabei unter anderem die „Akzeptanz sexueller Vielfalt“ lernen. Eine heftige politische Debatte entzündete sich erst in diesem Jahr, als bekannt wurde, dass eine Online-Petition konservativer Kreise mehr als 120 000 Unterstützer gefunden hat. Mittlerweile gibt es zwei Gegenpetitionen, die ebenfalls mehr als 100 000 Unterschriften gesammelt haben.

FDP und CDU erkennen keine Lücken im Bildungsplan

Eine Erklärung reiht sich seither an die andere. Grün-Rot kämpft für Toleranz und gegen die Diskriminierung. In den bisherigen Bildungsplänen macht die Koalition Lücken aus, was die Akzeptanz unterschiedlicher Lebensformen angeht. Diese kann wiederum die FDP und die CDU nicht erkennen. Die Liberalen sprechen von einem „sinnlosen und gefährlichen Grabenkampf“. Um sich politisch zu profilieren, fordere die Koalition sexuelle Vielfalt. Es hätte genügt, beim bisherigen Toleranzbegriff zu bleiben, der Diskriminierung verbiete. Die CDU fordert, die Bildungspläne müssten allenfalls behutsam weiterentwickelt, keineswegs revolutioniert werden.

Schätzungen verschiedener Forscher besagen, dass drei bis fünf Prozent der Bevölkerung homosexuell sind. „Das wäre an unserer Schule eine ganze Klasse“, überschlägt Manon. In der 10c selbst wäre es mindestens einer. Das überrascht die Schüler denn doch. Im Wagenburg-Gymnasium spiegeln sich alle politischen Positionen der Debatte. Weitgehend einig ist man sich in einem grundsätzlichen Punkt. „Schwule werden hier nicht diskriminiert“, konstatiert Savinien. Man strebt nach Toleranz.

Die Schüler des Wagenburg-Gymnasiums diskutieren angeregt. Foto: Achim Zweygarth
Während die Kommentare im Internet auf die unterschiedlichen Online-Petitionen nicht nur den Kultusminister Andreas Stoch (SPD) frösteln lassen, setzen sich die Schüler ernsthaft mit der Thematik auseinander. Mischa findet, die Regierungspläne seien überzogen, Schüler seien bereits jetzt tolerant und sachlich im Umgang mit dem Thema sexuelle Vielfalt. „Langsamer, subtiler, nicht über die Lehrpläne“ wünscht sich David die Herangehensweise. „Es bringt nicht viel, total zu übertreiben.“ „Sehr gut, dass es in den Lehrplänen steht“, sagt dagegen Sascha. Von Normalität ist das Thema Homosexualität an den Schulen jedenfalls noch weit entfernt.

Davon weiß der Lehrer Udo Fleige aus Tübingen ein Lied zu singen. Ein 14-jähriger homosexueller Schüler wurde wegen seiner Neigung von den anderen gemobbt, der Schulleiter wusste sich nicht anders zu helfen, als ihn zu seiner eigenen Sicherheit vom Unterricht auszuschließen. Oder die beiden Lehrer, die ihre Namen samt Telefonnummern an Wände gesprüht fanden, versehen mit dem Schlagwort „schwule Hotline“. Dabei ist nebensächlich, dass einer der beiden heterosexuell war.

Die Beispiele zeigen, bis jetzt sind Lehrer wie Schüler oft hilflos, wenn es an den Schulen im Land zu homophoben Übergriffen kommt. Dabei sind die Schimpfworte „Schwuchtel“ oder „schwule Sau“ noch das Wenigste. „Ist nicht so gemeint, zielt nicht auf Homosexuelle“, sagen sie in der 10c übereinstimmend. Unmännliches Verhalten werde so kritisiert, heißt es.

Proteste der Eltern sind nicht selten

Udo Fleige, der Vorsitzende des Arbeitskreises Schwule bei der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, ist froh über den Vorstoß der Landesregierung. „Das bedeutet Rückhalt vom Dienstherrn“. Bis jetzt kann Fleige, der Religion und Biologie unterrichtete, niemandem in der Schule zum Outing raten. Selbst Lehrer, die das Thema Homosexualität im Unterricht ansprechen, setzen sich seiner Erfahrung nach häufig dem Verdacht aus, sie täten das aus eigenem Interesse. Durchaus gebe es „Reklamationen“, wenn im Unterricht die Rede auf sexuelle Vielfalt komme, berichtet der Lehrer. „Immer aus fundamentalistischen Elternhäusern“, entweder der islamischen oder der extrem pietistischen Richtung. Da überlege sich mancher Lehrer zweimal, ob er das Thema aufgreife.

Das kann nun Manon vom Wagenburg-Gymnasium gar nicht nachvollziehen. „Nie würde ich glauben, dass ein Lehrer schwul ist, weil er über Homosexualität spricht.“ Handlungsbedarf sehen sie durchaus in der 10c, auch wenn sie sich alle als tolerant betrachten. Homophobie sei das Thema. Wie aber kann man die Diskriminierung bekämpfen? Da sehen sich die Schüler ratlos um. Über die Bildungspläne vielleicht eher nicht. Die Jugendlichen wissen, sie würden sich wohl komisch fühlen, hätten sie zwei Mütter. Sie bräuchten wohl sehr viel Mut, es mitzuteilen, wenn sie homosexuell wären. Sie sind sicher, so eine Erklärung würde alle anderen Eigenschaften in den Hintergrund treten lassen, zumindest anfangs.

Reden, meint Jan. Der Lehrer sollte erklären, wieso manche zwei Mütter oder zwei Väter haben. Gerne am konkreten Fall. Allgemein und in allen Fächern? Davon hält die Mehrheit in der 10c nichts. „Wenn man zu viel darüber redet, zeigt das auch, es ist nicht normal“, meint Sascha. „Man sollte es nur ein bisschen ansprechen, als ob es was Normales wäre“, meint Nicolas. Am besten in der Grundschule. Na ja, in Bio findet Manon, da redet man immer nur von Frau und Mann, da könnte man auch mal über Mann und Mann reden. Lilli würde mal ne Doppelstunde zum Thema reichen. „Es wäre nicht gut, in jedem Fach darüber zu sprechen, es passt nicht überall.“ Deutsch, Religion, Gemeinschaftskunde, das wären für sie die richtigen Orte. Ihr würde wohl ein Besuch in der Art von Freiburgs lesbischem und schwulem Schulprojekt (Fluss) entgegenkommen. Dabei kommen Lesben und Schwule in Schulen, stellen sich Fragen und berichten über eigene Erfahrungen.

Kleine Schritte zur Normalität

Die Befürworter neuer Bildungspläne wollen gar nicht in jedem Fach Grundsatzdebatten anstrengen. Manchmal würde auch ein kleines Beispiel genügen, findet Lehrer Fleige. Warum heißt es in keiner Matheaufgabe, Franz und Fritz wollen heiraten, wenn man die Kosten der Hochzeit ausrechnen soll, fragt er. Das wäre ein Schritt zur Normalität. Daran scheiden sich die Geister in der 10c. Savinien stimmt zu, Georg glaubt nicht, dass wegen Fritz und Franz die Toleranz steigt.

Die politische Debatte indes hält an. Die drei Stuttgarter Bundestagsabgeordneten Cem Özdemir (Grüne), Stefan Kaufmann (CDU) und Ute Vogt (SPD) haben am Donnerstag einen Aufruf im Namen ihrer Parlamentskollegen aus dem Südwesten gestartet, in dem sie sich zu einem toleranten und weltoffenen Baden-Württemberg bekennen. Man habe kein Verständnis für den Inhalt der Onlinepetition gegen die Bildungsplanreform. „Der tolerante Umgang mit sexueller Vielfalt“ müsse in der Schule den notwendigen Stellenwert haben. 34 Abgeordnete aller Parteien haben unterschrieben.

Der evangelische Landesbischof Frank Otfried July differenziert das Thema aus. Er sieht sich veranlasst richtig zu stellen, das die Kirche sich selbstverständlich nicht gegen Toleranz stelle und nicht für die Ausgrenzung homosexueller Menschen eintrete. Gleichzeitig werde man aber weiter über das Zusammenleben in einer Gesellschaft, über Sexualethik, Lebensbeziehung und biblische Aussagen diskutieren.

Mehr Kontakt zu Homosexuellen würde Akzeptanz vereinfachen

Soll sie, meint der Regierungschef. „Es gehört zur Religionsfreiheit“, sagt der Katholik Winfried Kretschmann, „dass die Religionsgemeinschaften ihre Mitglieder zu einer bestimmten Lebensweise anhalten.“ Die Politik sieht er da zu großer Zurückhaltung aufgefordert. Die Schule müsse gewährleisten, dass unterschiedliche Lebensformen nicht diskriminiert würden. „Wir müssen Menschen so akzeptieren, wie sie sind. In ihrer Veranlagung. Fertig. Aus. Amen“, sagt der Ministerpräsident.

Da sind die Schüler ganz auf der Seite ihres Landesvaters. Einfacher als über die Bildungspläne wäre es mit der Akzeptanz, hätte man mehr mit anderen zu tun. Ein Drittel der Klasse hat im Alltag keinen Kontakt zu Homosexuellen. Doch das ändere sich, versichern die Schüler. Eine Schülerin hat eine lesbische Tennispartnerin. „Nichts Besonderes“, lautet ihr Urteil. Fänden sich mehr, wär es noch weniger was Besonderes. Da sind sich die Schüler einig.