Die Little White Wedding Chapel am Las Vegas Boulevard, jene Kapelle mit Drive-Thru, wo man sich das Jawort auch im Auto geben kann, wenn es schnell gehen muss. Ein Elvis-Imitator steht für alle Fälle bereit. Annika Strauss hat keine Eile. An einem drehfreien Sonntag im Mai fährt sie in einer Stretchlimousine vor. Sie trägt ein Kleid wie Cinderella. Ihr Regisseur trägt ihr die Schleppe bis zum Traualtar.

 

Oliver, ihr zukünftiger Ehemann, wartet schon. Und die Kollegen aus dem Filmteam stehen auch Spalier. Zu Hause sitzen ihre Eltern vor ihrem PC und verfolgen die Zeremonie via Internet. Ihre Mutter wird später sagen, ihre Tränen seien auch nach der Trauung noch gekullert.

Elfmal hat sie die Tochter schon auf der Mattscheibe sterben sehen. Elfmal hat sie das nur ertragen, wenn die Tochter auf der Couch neben ihr saß, sicher in ihrem Arm. Diesmal hat sie eine Packung Taschentücher dabei. Mutter und Tochter schluchzen synchron, als Annika mit gepresster Stimme das Jawort hervorstößt: „Yes, I do.“

Nein, dieses Happy End steht nicht im Drehbuch von „Seed II“. Dies ist ihre Trauung. Der glücklichste Moment in ihrem Leben, wie sie später sagt. Doch das Lampenfieber, es ist dasselbe wie beim Dreh.

Das Glück und das Grauen, lernt man da, liegen dichter beieinander, als man denkt. Es gibt Leute, die es sich zum Beruf gemacht haben, diese Grenze auszuloten. Eine von ihnen ist Annika Strauss.

So konnte man es 2007 in der ungeschnittenen Fassung des ersten Seed-Films sehen. Der Skandalregisseur Uwe Boll hat ihn gedreht und in 65 Länder verscherbelt. Mit drei Millionen verkaufter DVDs gilt er als einer der erfolgreichsten Horrorfilme made in Germany.

Jetzt hat sich der Regisseur Marcel Walz, 27, die Rechte an der Fortsetzung gesichert. Walz ist ein Mann, der leise spricht und nicht gut schläft, wenn es Stress am Set gibt. Annika Strauss ist seine Muse. In der deutschen Fanszene sind die beiden berühmt, doch das reicht ihnen nicht. Sie wollen ein größeres Publikum erreichen, und das geht nur mit einem größeren Budget.

„Seed II“ gilt als Selbstläufer, deshalb hat ein Investor eine sechsstellige Summe hinausgehauen. Der Film soll ihr Sprungbrett werden für Amerika, den größten Horrormarkt weltweit. „Seed II“ ist ein Slasher, ein Schlitzer, wie man diese Spielart des Horrorfilms nennt. Sie folgt dem Muster solcher Blockbuster wie „Scream“: Es geht um das Böse, das unvermittelt in den Alltag junger Amerikaner einbricht.

In diesem Fall sind es Partygirls, die mit dem Wohnmobil von Chicago nach Las Vegas fahren, um es noch einmal richtig krachen lassen, bevor eine von ihnen heiratet. Das ist der Plan. Doch die Party ist schon vorbei, bevor sie richtig begonnen hat. Max Seed hat die Mädchen in eine Falle gelockt. Der psychopathische Massenmörder.

Nägel in Gummiarmgelenken

Annika Strauss ist eines seiner Opfer. Sie liegt jetzt auf dem Rücken auf einem Felsplateau und starrt mit weit aufgerissenen Augen in den wolkenlosen Himmel über der Wüste. Sie hat beide Arme weit ausgestreckt und die Beine übereinandergeschlagen. Es ist ein symbolträchtiges Bild. Die Märtyrerin.

Ihr T-Shirt ist blutverkrustet. Ein Loch neben dem Bauchnabel gibt den Blick auf eine Stichwunde frei. Am Tag zuvor hat ihr Seeds Komplizin ein Messer bis zum Anschlag in den Bauch gerammt. Die Wunde wirkt täuschend echt. Ein Artefakt aus Silikon und Kunstblut. Der Maskenbildner Ryan Nicholson hat sie ihr aufgeklebt.

Nicholsen ist ein gefragter Mann in Hollywood. Ein Bonvivant, der gerne isst und laut lacht. Der Kanadier hat schon Special Effects für David Cronenberg („Die Fliege“) oder James Wong („Final Destination“) gemacht. Abgeschnittene Penisse pflastern seinen Weg.

Eine Kreuzigung fehlte noch in seinem Portfolio. Darum hat er den Auftrag angenommen. In seinem Hotelzimmer hat er Abdrucke von Annikas Armen gemacht, unverzichtbar für die Kreuzigung. Später, wenn der Film geschnitten ist, wird man erst den hammerschwingenden Seed und im nächsten Bild die Nägel sehen, die sich durch Gummihandgelenke bohren. Vorausgesetzt, die Szene wird nicht von der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) beanstandet.

Sie kennt ihre Grenzen

Marcel Walz schwant Schlimmes. Eine Kreuzigung, sagt Walz, könnte ihm als Schändung eines christlichen Symbols ausgelegt werden. Dabei sei diese Szene das i-Tüpfelchen des Films. Sie herauszuschneiden, das wäre, als würde man ein Fußball-Länderspiel ohne Tore übertragen.

Man darf sich die Produktion eines Horrorfilms als Ritt auf Messers Schneide vorstellen. Die Schauspieler liefern sich der Kamera bedingungslos aus. Sie geben Geräusche von sich, die man sonst kaum hört. Gerade schluchzt Annika. Es ist so ein hohles Wimmern, das, was übrig bleibt, wenn man keine Tränen mehr hat.

Annika Strauss trifft den Ton perfekt. Sie sei ein Naturtalent, sagen die, die mit ihr gearbeitet haben. Eine, die sich gehen lässt ohne Rücksicht auf ihr Spiegelbild. Aber sie kennt ihre Grenze. Gewalt dürfe nicht zum Selbstzweck werden, sagt sie: „Blut spritzen um des Blutspritzens wegen, da mache ich nicht mit.“

Von der Märchenfigur zum Mordopfer

Zum Horror kam Annika Strauss eher zufällig. 2009 stieß sie im Internet auf ein Stelleninserat. Für seine erste Low-Budget-Produktion „La petite mort“ suchte Marcel Walz eine Hauptdarstellerin. 80 Frauen meldeten sich. Sie bekam den Job. Es war nicht ihre erste Rolle. Sie war zehn, als sie im Schultheater auf der Bühne stand: Sie spielte den freundlichen Drachen in Peter Maffays Musical „Tabaluga und Lilli“.

Von der Märchenfigur zum Mordopfer, diese Wandlung hatte ihr kaum einer zugetraut, vielleicht nicht einmal sie selber. Sie hat gerade ihre Masterarbeit im Fach Rhetorik abgegeben. Es geht darin um die „Ästhetik der Grausamkeit“, aber die Theorie, das ist das eine und die Praxis das andere. Sie sagt: „Man lernt, wie viel man aushalten kann, wenn man will.“ Und sie sagt, erwürgt zu werden, sei besonders schlimm gewesen. „Der Regisseur war neu im Horrorgenre. Wir mussten die Szene x-mal wiederholen. Am Ende habe ich wirklich kaum noch Luft gekriegt.“

Im richtigen Leben ist Annika Strauss dem Tod noch nie begegnet. Sie lebt seit neun Jahren mit Oliver zusammen, einem sensiblen Riesen. Er beschützt sie auch am Set. Da jobbt er, der Fahrlehrer, als Fahrer, Fotograf oder Tonmann. Er weiß jetzt, was echt ist und was fiktiv. Aber nicht immer ist das hilfreich. Am vorletzten Drehtag in Las Vegas zum Beispiel soll Annika mit einem Kaktus ausgepeitscht werden. Doch der Kaktus bricht, Dornen bohren sich in ihr Bein. Als sie laut aufschreit, schießen Oliver Tränen in die Augen.

Wie eine Achterbahnfahrt

Gut, dass er nicht in ihren Kopf hineinschauen kann. Es ist ein Labyrinth des Schreckens, ein Archiv der blutigsten Szenen aus Horrorfilmen. Andere Darstellerinnen hyperventilieren, um sich in einen emotionalen Ausnahmezustand zu versetzen. Hysterie. Panik. Todesangst.

Annika Strauss sagt, sie rufe keine Emotionen ab, nur Bilder. So vergegenwärtigt sie sich den Horror. So hält sie ihn aber auch auf Distanz. Millimeterweit. Nicht immer funktioniert diese Strategie. Nach besonders erschütternden Szenen habe sie laut geheult: „Das musste einfach raus.“

Sie ist mit jedem Tod selbstbewusster geworden. Doch die Angst, sie ist immer noch da, auch nach zwanzig Filmen, einem geprellten Steißbein und einer herausgesprungenen Kniescheibe.

Das Herzrasen. Extremsportler kennen das. Den Adrenalinkick im Angesicht der Gefahr. Ein Gefühl wie vor einem Bungee-Sprung oder einer Achterbahnfahrt. Wann hat sie das schon im Alltag?

Hochzeit in Las Vegas

Die Little White Wedding Chapel am Las Vegas Boulevard, jene Kapelle mit Drive-Thru, wo man sich das Jawort auch im Auto geben kann, wenn es schnell gehen muss. Ein Elvis-Imitator steht für alle Fälle bereit. Annika Strauss hat keine Eile. An einem drehfreien Sonntag im Mai fährt sie in einer Stretchlimousine vor. Sie trägt ein Kleid wie Cinderella. Ihr Regisseur trägt ihr die Schleppe bis zum Traualtar.

Oliver, ihr zukünftiger Ehemann, wartet schon. Und die Kollegen aus dem Filmteam stehen auch Spalier. Zu Hause sitzen ihre Eltern vor ihrem PC und verfolgen die Zeremonie via Internet. Ihre Mutter wird später sagen, ihre Tränen seien auch nach der Trauung noch gekullert.

Elfmal hat sie die Tochter schon auf der Mattscheibe sterben sehen. Elfmal hat sie das nur ertragen, wenn die Tochter auf der Couch neben ihr saß, sicher in ihrem Arm. Diesmal hat sie eine Packung Taschentücher dabei. Mutter und Tochter schluchzen synchron, als Annika mit gepresster Stimme das Jawort hervorstößt: „Yes, I do.“

Nein, dieses Happy End steht nicht im Drehbuch von „Seed II“. Dies ist ihre Trauung. Der glücklichste Moment in ihrem Leben, wie sie später sagt. Doch das Lampenfieber, es ist dasselbe wie beim Dreh.

Das Glück und das Grauen, lernt man da, liegen dichter beieinander, als man denkt. Es gibt Leute, die es sich zum Beruf gemacht haben, diese Grenze auszuloten. Eine von ihnen ist Annika Strauss.