Seit 25 Jahren gibt es „Kunst der Gegenwart im Hospitalhof“: Für alle Beteiligten, Ausstellungsmacher, Künstler und Besucher, war und ist die Stuttgarter Reihe ein Lernprozess, meint Pfarrer Helmut Müller.

Stuttgart - Den Spaßbildhauer Tobias Rehberger, den Skandaleur Jonathan Meese oder die Malerin Cornelia Schleime – Pfarrer Helmut A. Müller hat sie alle zum Altar geführt, zum Altar der Hospitalkirche, die eine der wichtigsten evangelischen Ausstellungsinstitutionen in Württemberg ist. Es ist noch gar nicht lange her, da war zeitgenössische Kunst im sakralen Kontext gleichbedeutend mit verknöchertem Spätexpressionismus oder frommen Chagall-Plagiaten. Dass sich das mittlerweile geändert hat, ist nicht zuletzt ein Verdienst des Stuttgarter Hospitalhofs.

 

Da das evangelische Bildungszentrum in der Büchsenstraße derzeit neu erbaut und die Kirche restauriert wird, begeht die Reihe „Kunst der Gegenwart im Hospitalhof“ auch ihr 25-jähriges Jubiläum in der Brenzkirche am Kochenhof. Mit gewohnt herausfordernder Thematik: unter dem Titel „Teenage Jesus“ stellt der dänische Konzeptualist Alexander Tovborg in dem Interimsquartier ab 16. September Mutmaßungen über die Jugend Christi an.

Auch wenn man es ihm nicht ansieht: Müller ist ein Kunstfreak im Talar. Die Regale seines Arbeitszimmers ächzen nicht unter Bibeln, sondern unter aktuellen Ausstellungskatalogen und Theoriewerken. Keinen Rundgang an der Kunstakademie lässt er aus, für die Documenta hat er sich gleich ein paar Tage freigenommen.

Anfangs standen kirchliche Einrichtungen nicht hoch Kurs

Als Müller 1987 von einer Backnanger Pfarrstelle als Leiter des Hospitalhofs und der City-Gemeinde nach Stuttgart wechselte, hat er die Reihe ins Leben gerufen und seitdem auch betreut. Am Anfang stand die Überlegung, das Seminarangebot des Zentrums durch ästhetische Reflexionen zu ergänzen. Gleich in den ersten beiden Jahren gelang es Müller, klangvolle Namen wie Lambert Maria Wintersberger, Rainer Fetting oder Alfred Hrdlicka unter seiner Kanzel zu vereinen. Und das in den Achtzigern! Kirchliche Einrichtungen galten da noch nicht als ernsthafte Präsentationsorte. Ein Künstler äußerte gegenüber Müller gar die Befürchtung, eine Kooperation mit der Kirche könne seinen Preis auf dem Kunstmarkt drücken.

Mit rhetorischem Geschick und Leidenschaft leistete Müller Überzeugungsarbeit nach allen Seiten. Bei den Mitgliedern seiner City-Gemeinde wie in den kirchlichen Gremien, wobei ihm mehr als einmal der Gegenwind der traditionellen protestantischen Bilderfeindlichkeit ins Gesicht schlug. Verstört zeigte sich die Gemeinde etwa über Aktionskreuze von Hermann Nitsch oder über eine Performance von Peter Gilles, der sich im zuvor abgezapften Eigenblut auf dem Kirchenboden wälzte.

Grundfragen des Menschseins sind der rote Faden

Bezüge zur christlichen Ikonografie spielen für den Kulturmanager im Pfarramt keine zentrale Rolle bei der Planung seines Programms. „Undogmatisch zu sein heißt nicht, der Beliebigkeit Tür und Tor zu öffnen.“ Trotz Ironie und Provokation ziehen sich Grundfragen des Menschseins als roter Faden durch die Ausstellungen. Am interessantesten seien für ihn als Kurator diejenigen Projekte gewesen, die auf den Ort selbst reagierten. Meese griff Hans Seyfers spätgotische Kreuzigungsgruppe auf, Rainer Ganahl ergründete in seiner historischen Erinnerungsarbeit die Nachbarschaft zur einstigen Synagoge. Für manchen jüngeren Künstler wurde der Hospitalhof zum Karrieresprungbrett. Die durch Erdplastiken bekannt gewordene Madeleine Dietz oder der unlängst mit dem Molfenter-Preis geehrte Fotokonzeptualist Georg Winter feierten hier ihre ersten Ausstellungserfolge. Den Lohn für seine Arbeit fährt Müller auch in Quadratmetern ein: Beim Neubau ist eine Vergrößerung der Präsentationsfläche vorgesehen!

Erfreut stellt der Kunst- und Kirchenmann im Rückblick fest, wie viel sich in einem Vierteljahrhundert verändert hat. „Die Bereitschaft der Kirchenmitglieder, auf kontroverse Positionen einzugehen, wächst stetig.“ An Christian Jankowskis ironischem Jesus-Casting etwa, das unlängst in der Brenzkirche zu sehen war, habe niemand ernsthaft Anstoß genommen.

Von rund einhundertzwanzig Ausstellungen ist Müller eine ganz besonders im Gedächtnis geblieben: Werner Knaupps skulpturales Ensemble aus Gasflaschen, umgeschmiedet zu verformten menschlichen Körpern. Bei einem Besucher lösten sie ungewohnt heftigen Protest aus. Erst später hat Müller erfahren, weshalb der Mann so erbost war. „Er war schwer kriegstraumatisiert. Die Arbeiten erinnerten ihn an verbrannte Leichen. Nach der Phase des Schocks gelang ihm aber eine erste Aufarbeitung des Traumas.“ Für Müller der Beweis, dass Kunst berührt, aufwühlt, nachdenken und Einkehr halten lässt, auch wenn sie manchmal grausam ist. Denn der Theologe weiß: „Die Seele braucht Bilder.“