Der Humangenetiker Markus Nöthen erklärt, warum die genetische Forschung für den Menschen immer wichtiger wird.

Stuttgart - Die Erkenntnisse über das Erbgut des Menschen haben in den vergangenen Jahren rasant zugenommen. Im Interview erläutert Markus Nöthen, der stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik, wie dieser Wissenschaftszweig zunehmend unser Leben beeinflusst.

 
Herr Nöthen, welchen Einfluss haben die Gene auf unser Leben?
Man kann es so beantworten: Es gibt wenig Bereiche des Lebens, auf die Gene keinen Einfluss haben. Fast alle Krankheiten haben einen genetischen Beitrag, auch solche, bei denen man das nicht primär vermutet, etwa Infektionskrankheiten. Man weiß, dass auch in den Regionen, in denen ein Erreger weit verbreitet ist, nur ein Teil der Bevölkerung die Infektion wirklich bekommt. Da spielt die genetische Variabilität des Menschen eine große Rolle.
Lassen sich Charakter und Fähigkeiten eines Menschen direkt den Genen zuschreiben?
Nein. Bei den meisten Eigenschaften eines Menschen kommen mehrere Faktoren zusammen. Man kann schon sagen, dass die Gene eine gewisse Rolle spielen. Aber zusätzlich hat die Interaktion mit der Umgebung einen sehr großen Einfluss. Das ist für jeden Einzelnen unterschiedlich: Bei dem einen mag der genetische Beitrag größer sein als beim anderen.
Wie sieht es mit der Intelligenz aus?
Intelligenz ist ein gutes Beispiel für eine Eigenschaft, die stark von Interaktionen abhängt. Die Umgebung wirkt sich aus: Ist sie fördernd oder nicht fördernd? Die Gene spielen bei der unterschiedlichen Ausprägung von Intelligenz nur dann die entscheidende Rolle, wenn zwei Menschen ansonsten im gleichen Maße gefördert werden.
Wenn ein Gen einen Defekt aufweist, wie schlimm ist das?
Das ist von Gen zu Gen anders. Die großflächigen Sequenzierungen der Gene von gesunden Menschen zeigen, dass solche Defekte viel häufiger sind, als man vorher vermutet hat. Wir kennen viele Beispiele, wo ein Gen seine Funktion vollständig verloren hat, aber der Mensch trotzdem gesund bleibt. Bei manchen Genen vermag der Körper diesen Totalverlust mit anderen Mechanismen auszugleichen. Die Nervenzellen im Gehirn können das sehr gut. Während der Evolution haben sich solche Mechanismen zum Schutz entwickelt, weil das Gehirn sehr wichtig ist. In anderen Fällen funktioniert das nicht. Bei Enzymdefekten beispielsweise fehlt ein Ersatz für das fehlende Enzym, der Mensch wird krank.
Trotzdem werden Gentests immer wichtiger. Wann ist eine solche Analyse sinnvoll?
Eine der Fragen, an denen man sich orientieren kann, heißt: Liefert der Gentest eine gesundheitsrelevante Information? Das trifft auf sogenannte monogene Erkrankungen oder bestimmte familiäre Tumorerkrankungen zu, die im Wesentlichen durch die Veränderung eines einzelnen Gens entstehen. Häufig hat die Feststellung der Mutation Einfluss auf die Therapie oder ermöglicht eine Prävention. Bei manchen erblichen Krebserkrankungen können regelmäßige Früherkennungsprogramme bei Mutationsträgern die Sterberate extrem senken.
In den USA etablieren sich Gentests bereits für Neugeborene.
Ja, aber gezielt für bestimmte Erkrankungen. Ein Neugeborenen-Screening gibt es auch bei uns für bestimmte Erkrankungen, aber noch ohne molekulargenetische Tests im ersten Screening-Schritt. In Deutschland wird viel diskutiert, wie man das Screening erweitern könnte.
Wie bewerten Sie das?
Gentests können eine sinnvolle Ergänzung sein. Aber man muss bei jeder Krankheit fragen, ob es sinnvoll ist, diese Krankheit möglichst früh zu entdecken. Oder ob es genügt, wenn der Patient mit den klinischen Symptomen zum Kinderarzt geht und der die Diagnose erstellt und die Therapie einleitet. Ein Beispiel, wo eine genetische Früherkennung hilfreich wäre, ist die Phenylketonurie, die PKU. Die Kinder können dann eine Diät halten, die verhindert, dass die Krankheit ausbricht.
Müssen wir den Umgang mit unseren eigenen genetischen Daten noch lernen?
Ich kann verstehen, dass die Fülle der Informationen aus den Genen die Menschen erschreckt und dass sie sich fragen, wie sie damit umgehen sollen. Aber ich glaube, wir sind in einer Übergangsphase. In zehn oder 20 Jahren werden die genetischen Daten eine selbstverständliche Information sein. Für uns sind heute viele Dinge ganz normal, die die Menschen vor 50 Jahren noch zutiefst beunruhigt hätten. Trotzdem können wir heute ein glückliches Leben führen, weil wir gelernt haben, neue komplexe Informationen zu verarbeiten und sinnvoll in unser Leben zu integrieren.
Es gibt Gentests für Krankheiten, bei denen keine Therapie entwickelt wurde. Setzt dies die Betroffenen nicht unnötig unter Druck?
Jeder muss selbst entscheiden, was er wissen will. Ethiker sagen zu Recht, wir müssen dem Menschen die Freiheit erlauben, auch irrationale Dinge zu tun. Ich finde es aus ärztlicher Sicht sinnvoll, wenn damit eine medizinische Konsequenz verbunden ist. Es gibt natürlich auch andere Fälle, beispielsweise Chorea Huntington. Diese monogene Krankheit bricht erst im Erwachsenenalter aus. Das Wissen um das Risiko für eine Erkrankung kann eine Hilfe sein, weil die Betroffenen ihr Leben dann anders planen können.
Das ist ein Ausnahmefall.
Ja. Aber es gibt weitere Beispiele. Kinder mit schweren Entwicklungsstörungen. Für die Eltern ist das eine belastende Situation, vor allem für die Mutter. Die Mütter machen sich immer Vorwürfe, dass sie in der Schwangerschaft etwas falsch gemacht haben. Diese Störungen haben häufig genetische Ursachen. Wenn man dann mit einem Gentest eine verantwortliche Mutation identifiziert, also eine klare Diagnose stellt, dann ist das auch ohne therapeutische Konsequenzen bereits eine große Entlastung in der Familie. Zudem vermeidet es weitere überflüssige Untersuchungen.
In solchen Fällen wird das komplette Genom des Kindes untersucht?
Noch nicht in der Routine. Da aber eine große Zahl von Genen zur Entwicklungsstörungen führen können, ist die Suche breit angelegt, in Zukunft sicher auch durch die Untersuchung aller menschlichen Gene in einem Schritt. In einigen Ländern haben bereits Studien begonnen, ob man den Kindern helfen kann, wenn solche großflächigen Untersuchungen schon frühzeitig beim Auftreten von Entwicklungsverzögerungen durchgeführt werden.
Schauen wir auf die großen Volkskrankheiten. Sollte jedermann mit einer Genanalyse sein Risiko ermitteln lassen?
Ein klares Nein. Dafür ist die genetische Vorhersage für das Auftreten der Krankheit zu unsicher. Krankheiten wie Diabetes, spät beginnender Alzheimer oder Herzinfarkt sind multifaktorielle Störungen mit einem begrenzten genetischen Beitrag. Bei manchen Volkskrankheiten bestimmt der Arzt bereits heute eine Reihe von Risikofaktoren, etwa den Blutdruck für Herzinfarkt. Die Einbeziehung genetischer Information kann in diesem etablierten System aber die Vorhersage verbessern.

Treffen der Humangenetiker

Jahrestagung
In diesem Jahr trafen sich die deutschen Humangenetiker in Bochum zu ihrer mittlerweile 28. Jahrestagung. Ein Schwerpunkt war dabei die Diskussion, welchen Einfluss die Gene auf die Entwicklung von Kindern haben. Ein weiteres wichtiges Thema waren die großen humangenetischen Untersuchungen, die derzeit in einer ganzen Reihe von Ländern stattfinden. Dabei geht es unter anderem um typische genetische Auffälligkeiten der Bevölkerung in diesen Regionen.

Experte
Der Mediziner Markus Nöthen ist Direktor des Instituts für Humangenetik am Uni Bonn. Zudem ist er Mitglied der Wissenschaftsakademie Leopoldina und stellvertretender Vorsitzender der Gesellschaft für Humangenetik. Der Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen Forschung liegt auf molekulargenetischen Untersuchungen insbesondere bei Krankheiten, bei deren Entstehung viele Faktoren eine Rolle spielen. Dazu zählen neuropsychiatrische Leiden, Haarausfall und angeborene Fehlbildungen.