Zu seinem zehnten Geburtstag macht das Stuttgarter Kunstmuseum dem Publikum ein mitreißendes Geschenk: Die Schau „I got Rhythm“ geht der swingenden und singenden Wechselbeziehung zwischen Kunst und Jazz nach.

Stuttgart - Keine Geburtstagsparty ohne Musik! Im Stuttgarter Kunstmuseum singt und klingt es unentwegt schon seit Anfang des Jahres. Die Videoreihe „Sound in Motion“ bringt Töne in Schwung, im Sommer wurde der Kleine Schlossplatz zum städtischen Konzertpodium, die rhythmisch bewegten Arbeiten des Schweizer Konkreten Camille Graeser wippen in einer eigenen Schau bildlich mit – und doch erreicht das Jubiläumsprogramm zur Feier der ersten Kunstmuseumsdekade im Glaskubus mit der Ausstellung „I got Rhythm“ jetzt erst seinen Höhepunkt.

 

Es war ein langer Anlauf. Aber die Direktorin Ulrike Groos und ihre Mitkuratoren Sven Beckstette und Markus Müller sind auch weit gesprungen. „I got Rhythm“ dürfte die ambitionierteste, teuerste und ungewöhnlichste Schau in der Geschichte des Hauses sein, nicht nur seit der Eröffnung am Kleinen Schlossplatz vor zehn Jahren. Aus eigenen Beständen stammen in der Ausstellung nur zwei Bilder: eine Postkarte von Willi Baumeister aus Paris mit einer wirbelnden Federzeichnung der Folies-Bergère-Ikone Josephine Baker und das „Großstadt-Triptychon“ von Otto Dix. Das jazzige Zentralwerk des Kunstmuseums, das den programmatischen Anstoß zu „I got Rhythm“ gegeben hat, ist hier allerdings in selten zu sehender Version anzutreffen: als Kohlevorzeichnung auf Karton im 1:1-Format, die sonst lichtgeschützt im Depot unter Verschluss gehalten wird. In Öl kann man das „Großstadt-Triptychon“ nach wie vor in der Sammlung des Kunstmuseums bewundern, womit Groos das Publikum en passant zu zahlreichen Abstechern dorthin zu verleiten hofft.

Die übrigen 138 Arbeiten der Schau sind Leihgaben aus europäischen und amerikanischen Museen und Privatsammlungen – was „I got Rhythm“ zu einem auch finanziellen Kraftakt gemacht hat, der nur mit verstärkter Sponsorenhilfe zu stemmen war. Zu den Stars zählen, klar, die Klassiker des Themas: Henri Matisse mit der leuchtenden Farbexplosion seiner „Jazz“-Scherenschnittmappe von 1947; Piet Mondrian, dessen „Broadway Boogie Woogie“ das MoMA freilich nicht mehr verlassen darf, so dass der Maler und passionierte Swingtänzer in Stuttgart mit der vom Nationalmuseum Belgrad zur Verfügung gestellten, eher kleinformatigen „Komposition Nr. II mit Rot, Blau, Schwarz und Gelb“ von 1929 vertreten ist; und, nicht zu vergessen natürlich, Jackson Pollock, von dem man weiß, dass er stundenlang Swing hörte, während er Farbe auf seine Leinwände tröpfeln ließ. Umgekehrt erkannte der Saxofonist Ornette Coleman eine Wesensverwandtschaft zwischen seiner Musik und Pollocks expressivem Action Painting. Ein Gemälde des Malers zierte das Cover von Colemans Album „Free Jazz“ aus dem Jahr 1961. Pollocks „Reflection of the Big Dipper“ (1947) hat das Kunstmuseum in Amsterdam ausgeliehen.

Die Ausstellung bleibt nicht stumm

Von Zeit zu Zeit sieht man die alten Meister gern, könnte man mit Goethe an dieser Stelle sagen. Wahrhaft aufregend und anregend wird die Schau aber vor allem aus zwei Gründen: durch die Musik und fabelhafte künstlerische Entdeckungen in Hülle und Fülle.

„I got Rhythm“ ist – anders als vor Jahren „Der Klang der Bilder“ in der Staatsgalerie – keine stumme Ausstellung. Der technische Fortschritt erlaubt es, dass der (jedem Besucher dringend zu empfehlende) Audioguide zu einem Audioplayer wird, der die Bilder an zahlreichen Hörstationen mit dem passenden Sound begleitet. Man hört Louis Armstrongs heiseres Organ den titelgebenden Song „I got Rhythm“ intonieren, Artie Shaws Orchester spielt das coole Lied „Begin the Beguine“ von Cole Porter zu Max Beckmanns gleichnamigen Gemälde von 1946, westdeutsche Informel-Künstler wie K. O. Götz liebten den Bebop eines Charlie Parker, ihre in der DDR sozialisierten Kollegen wie A. R. Penck den Free Jazz eines Peter Kowald.

Und so ist die Ausstellung nicht nur ein visueller, sondern auch ein musikalischer Gang durch die Geschichte der intensiven Wechselbeziehungen von Malerei und Jazz, der sich quer durch das 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart zieht und als Vorläufer der Popkultur zu einem echten Massenphänomen entwickelte. Dass es dabei nicht immer gut gelaunt und fingerschnippend zuging, rufen Bilder wie Andy Warhols „Little Race Riot“ von 1964 ins Gedächtnis, auf dem weiße Polizisten Hunde auf einen dunkelhäutigen Mann hetzen. Und vor Joe Overstreets Gemälde „Strange Fruit“, dessen ins Bild baumelnde Füße von  Billie Holidays gleichnamigem Song über die an Südstaatenbäumen hängenden Schwarzen unterlegt sind, stockt einem vor Schreck fast der Atem.

Entdeckungen in Hülle und Fülle

Overstreet ist zugleich einer der phänomenalen Künstler, die „I got Rhythm“ zu einer Entdeckungstour durch unbekannte künstlerische Gefilde machen. Denn obwohl der Jazz die originäre Musik der Afroamerikaner ist, hatten schwarze Künstler es auf dem Kunstmarkt schwer – weil der Markt sich nicht weniger rassistisch verhielt als die Gesellschaft, aber auch weil stilistische Anverwandlungen der „weißen“ Abstraktion wie bei Norman Lewis’ Bild einer Jazzband andererseits als Verrat an der schwarzen Sache betrachtet wurden. Hinreißend die Bilder von Romare Bearden oder Ernie Barnes, und selbst Fähnleinführer des Abstrakten Expressionismus wie Franz Kline oder Willem de Kooning sind in diesem Kontext für ganz und gar nicht abstrakte Überraschungen gut: der eine, Kline, mit dem Bild „Hot Jazz“ (1940), der andere, de Kooning, mit einem hauchzarten Bleistiftporträt des Musikproduzenten Max Margulis (1944).

Ein eigenes Kapitel widmet die Schau Josephine Baker. Die Männerwelt stand Kopf wegen der Tänzerin, die halb nackt in den Nachtclubs die Beine schmiss und dabei augenkullernd und ironisch jede Männerfantasie und jedes Rassenklischee über dunkelhäutige Frauen zu bestätigen schien. Adolf Loos entwarf ein Haus für sie (mit Innen-Pool, was Besuchern ermöglichen sollte, die Hausherrin durchs Fenster beim Baden zu beobachten), Le Corbusier reiste ihr nach, und Paul Colin fertigte das Mappenwerk „Le Tumulte Noir“ über sie an, das der Verve ihrer Auftritte kaum nachsteht, aber auch nicht frei von rassistischen Untertönen ist. Ganz anders dagegen der Blick, den Marlene Dumas auf Baker wirft: auf ihrem Aquarell bedeckt die Kultfigur der Roaring Twenties ihren Körper scheu mit einem Tuch. Das Bild heißt „Not tonight“.