Auf Youtube ist die Ghettobraut Jilet Ayse ein Hit. Die Figur, deren Vorname Rasierklinge bedeutet, hat Idil Baydar kreiert. Am Sonntag tritt sie im Stuttgarter Renitenztheater auf.

Stuttgart - Wenn Jilet Ayse loslegt, weiß man nach ein paar Minuten nicht mehr, was man tun will: Lachen, heulen oder wegrennen. Diese Frau ist der totale Integrationsalbtraum. Da sitzt sie auf ihrem senfgelben Sofa im Adidas-Trainingsanzug, vor sich Erdnussflips, vier Fernbedienungen, fünf Handys und ein Dutzend Lippenstifte. Jilet Ayse aus Neukölln ist 18 und schafft ihren Schulabschluss nicht. Was aber voll keine Rolle spielt, weil „isch kann Job machen, isch arbeite Bäckerei“ – und: ihr Freund Ayak Ahmed heiratet sie ohnehin. Der ist nicht so ein „Milschschnittenmännchen“ wie die deutschen Typen, mit denen sich ihre Schwester Aysegül abgibt. „Die ist ’ne Integrationsnutte“, weil: „die geht auf Gymnasium“. Jilet Ayses Gangsta-Freund dagegen, der ist cool, der sagt, wie es läuft, der haut auch mal zu, „wenn isch fresch bin“, kontrolliert all ihre Handys und denkt an die Zukunft: Spätkauf aufmachen, und das Kindergeld von acht, neun Nachkommen, das ist doch super. Und sowieso: „Die Deutschen sterben aus.“ Was ein echtes Problem ist: „Wer zahlt dann mein Hartz IV?“

 

So erklärt die Ghettobraut aus Neukölln laut und meistens ziemlich wütend ihre Sicht auf den Rest der Welt – und ein Millionenpublikum liebt diese harte Form der Sozialsatire. Jilet Ayse ist ein Star auf Youtube, ihre mehrminütigen Videos werden geklickt und geteilt, und zeitweise kommentierte sie wöchentlich das Weltgeschehen für den Onlineauftritt der „Bild“-Zeitung. Was an Jilet Ayse so großartig ist?

„Sie ist das Klischee, was wir sehen wollen und sie schreit das heraus, was wir gleichzeitig verdrängen wollen.“ So erklärt sich Idil Baydar den Erfolg ihrer Figur. Die 39-jährige Schauspielerin sitzt in einem Berliner Straßencafé und müsste eigentlich stattdessen zwei andere Dinge tun: Umzugskisten packen und sich auf ihre Tournee mit ihrem ersten Programm vorbereiten. Zum ersten Mal reist die Großstadtkomödiantin mit Jilet Ayse als Live-Act-Programm „Deutschland, wir müssen reden!“durch die Republik.

„Woher kommst Du?“

Idil Baydar war das, was ihre Figur Jilet Ayse eine „Integrationsnutte“ nennen würde. Sie war gerade 15 Jahre alt, als sie zum ersten Mal gemerkt hat, dass jemand sie als Türkin wahrnimmt. Da lebte sie seit kurzem in Berlin – Großsiedlung Siemensstadt. „Es war ein Schock“. Bisher war Idil einfach Idil und wuchs in Celle bei ihrer alleinerziehenden Mutter auf, die sich von der Fabrikarbeiterin zur Maskenbildnerin und Familientherapeutin fortbildete. Die Tochter ging auf ein Waldorfinternat, ihre Freundinnen hießen nicht Ayse, sondern Annette. Mit Muttersprache hatten die paar Brocken Türkisch, die sie sprach, nichts zu tun. Nun wurde sie auf einmal gefragt: „Woher kommst Du?“ Sie lernte, was ein „Migrationshintergrund“ ist und dass sie selber einen hat und „dafür aber gut deutsch spricht.“ Eine Vorurteilswelle schwappte über sie.

„Und nach dem 11. September ist alles viel schlimmer geworden“, sagt sie. „Vorher waren wir Türken, auf einmal war muslimisch sein offiziell ein Problem.“ Auf einmal wird sie danach gefragt, was sie über das Kopftuch denkt oder über Ehrenmorde und sieht sich irgendwie genötigt zu erklären, dass gar nicht alle türkischen Frauen von ihren Männern verdroschen werden.

Die Zigarette, die Idil Baydar sich dreht, während sie das erzählt, krümelt ganz schon, so viel Druck und Wut liegen auf einmal in den Fingern der Schauspielerin. Auf die Jugendliche Idil Baydar damals hatte all das ziemlich destabilisierende Wirkung. Sie bricht die Schule ab, jobbt rum, weiß nicht, wer und was sie sein will.

Nachhilfe in Englisch und Deutsch

Eine Zeit lang spielte Idil Baydar Theater und produzierte Hörspiele. Aber die Rollenangebote waren recht eindimensional. „Ich kann ja nachvollziehen, dass man mich auf solche Rollen besetzt hat, aber ich wollte nicht hauptsächlich die türkische Putzfrau spielen.“ Sie arbeitet mit Kindern an der berüchtigten Neuköllner-Rütli-Schule und in Kreuzberg. Sie gibt Nachhilfe in Englisch und Deutsch. „Die Schule war eine Katastrophe“, sagt sie. „Die Jugendlichen haben keine Perspektive, und weil das so ist, richten sie sich schön in ihrer Opferrolle ein.“ Hier trifft sie Jugendliche, die ganz nah an ihrer Figur sind.

„Die Kinder sind doch wie Krüge – was man reinfüllt, das kriegt man.“ Noch heute sieht man den Schmerz und den Zorn im Gesicht von Idil Baydar, wenn sie von der verschleierten Schülerin erzählt, die einen Schnitt von 2,0 hatte, aber keine Gymnasialempfehlung bekam. Die Lehrer hätten argumentiert, das Kind habe zuhause zu wenig Unterstützung um ein Abitur zu schaffen. „Ich habe geheult, als das passiert ist.“ Später traf sie das Mädchen wieder. Sie hatte gerade die Berufsschule abgebrochen – die lag im Ostberliner Stadtteil Weißensee. „Da war dieses Mädchen vorher nie. Sie sagte, da gehöre ich nicht hin. Man hat ihr den Mut genommen.“ Als Baydar selbst ihr Abitur nachmachte und bei der Arbeitsagentur landete, sollte sie in einem Kästchen ankreuzen, ob sie Migrationshintergrund hat. Sie fragte ihren Berater, weshalb. Er erklärte, dass man ihr dann sprachlich besser helfen könne. „Aber Sie hören doch, dass ich perfekt deutsch spreche“, sagte Baydar. Es spielte keine Rolle. „Ich landete bei einem Berater, der schlechtes Deutsch sprach und sich über mein schlechtes Türkisch beschwerte.“


Irgendwann in dieser Zeit wurde im Kopf von Idil Baydar die Figur der Jilet Ayse geboren: eine ungebildete junge Frau, die in einem sehr einfachen Weltbild ihren Halt sucht und sich prima einrichtet zwischen ihrer Opferrolle in der ach so gemeinen deutschen Gesellschaft und das Abgelehntwerden versteckt hinter großen Überlegenheitsgesten. „Jugendliche und wechseln irgendwann vom Elternhaus über eine Zwischenwelt in die Gesellschaft. Wenn diese Gesellschaft sie nicht anerkennt, bleiben sie Fremdkörper.“ Die eigentliche Grausamkeit, die in dieser Satire steckt und einen manchmal zwischen den Lachern auch trocken schlucken lässt, ist der Fatalismus und die Chuzpe von Jilet, die ihr Schicksal als gegeben hinnimmt und sich darin mit zorniger Bauernschläue einzurichten versucht. Wut und Schmerz stecken auch in der Figur, die nicht aus Versehen „Rasierklinge“ mit Vornamen heißt. Sie habe sich gesagt: „Ihr wollt den Kanaken? Ok, Ihr bekommt den Kanaken“, hat Baydar in einem Interview erzählt.

In Wirklichkeit war es noch ein bisschen komplizierter. „Der Erfolg kam eigentlich aus Versehen“, sagt Baydar. Mutter und Tochter hatten ein ernstes Gespräch darüber, dass die Tochter sich irgendwie selbst in der Opferrolle einzurichten begonnen hatte – in einer Gesellschaft, die sie einfach nicht Idil sein lasse, sondern lauter Klischees für sie bereithalte. Die Mutter widersprach. Und bestellte ein Kamerateam. Idil schrieb ihre erste Nummer für Jilet. „Ich wollte meiner Mutter beweisen, dass es nicht klappt.“

Damit ist sie gescheitert – so richtig. Denn ganz schnell wurde Jilet Ayse zum Star im Internet. „Am Anfang war ein Geheimnis, dass die Leute nicht so ganz sicher waren: ist das Ernst oder Spaß?“ Junge Mädchen mit türkischen oder arabischen Wurzeln lobten in Kommentaren, dass mit Jilet endlich jemand sagt, was sie fühlen. „Sie interessiert die Jugendlichen, die sich so wahrgenommen fühlen wie sie: als Kanaken. Und die dann so ne eigene Trotzidentität entwickeln.“

Vor allem aber polarisiert die Figur der Ghettobraut aus Neukölln – auch nach drei Jahren werden manche der Videos noch im Netz geteilt und kommentiert. Die Beleidigungen und das Lob kommen dabei aus allen Richtungen. Nun ist Idil Baydar gespannt, wie das Publikum reagiert, wenn sie jenseits von Berlin auf der Bühne steht. Provozieren wird sie auf jeden Fall.