Ilja Richter hat im Renitenztheater sein Buch „Du kannst nicht immer 60 sein“ präsentiert. Sein Gesang ist besser als seine Witze.

Stuttgart - Die Zeit, sie rast und nagt: Kaum, dass man bei der Onlinebuchung eines Zugtickets ins benachbarte Ausland sein Greisenalter eingegeben hat, das man bis vor Kurzem noch für unerreichbar gehalten hatte, da wirft der nächste verschwiegene Geburtstag schon wieder alles über den Haufen. Insofern trifft der Titel von Ilja Richters Buch und der darauf basierenden Abendveranstaltung „Du kannst nicht immer 60 sein“ zumindest theoretisch das Lebensgefühl der zahllosen Generationen Vierzig plus.

 

Seltsam nur, dass das Renitenztheater dennoch praktisch leer ist: Bei Ilja Richters musikalischer Lesung präsentiert sich der viel zu große Saal verschämt abgehängt wie bei einem schlecht besuchten Popkonzert. 133 Folgen „Disco“ hat der Mann im ZDF präsentiert und ist dabei selbst eine Art Popstar geworden. Aber das ist so lange her wie Schlaghosen, Koteletten und Föhnfrisuren. Das war in den siebziger Jahren.

„Sie sind eine kleine, radikale, unterhaltungssüchtige Minderheit“, ruft der mittlerweile 63-jährige Schauspieler und Memoirenschreiber seinen gerade mal 110 Zuschauern zu. Und ja, anfangs ist es durchaus unterhaltsam zu beobachten, wie sich der aufgeregte Mann auf der Bühne einen beachtlichen Teil seines jugendlichen Enthusiasmus bewahrt hat. Er hampelt herum, beschwört das Überleben, sagt: „Um die sechzig rum wird kräftig gestorben.“ Wenn er meint, dass ein Gag naht, reißt er die Augen weit auf, so wie das Dieter Hallervorden einst gemacht hat. Er sagt, er würde sogleich aus seiner „heiteren Streitschrift gegen die unvermeidliche Endlichkeit“ zu lesen beginnen, aber er unternimmt eine Menge, um doch nicht sofort aus dem Buch lesen zu müssen. Beispielsweise erzählt er, dass dauernd Leute auf ihn zukämen, die „Das waren noch Zeiten!“, sagen. Oder er zitiert Kurt Tucholsky, Heinrich Heine, Neil Young. Der kanadische Rockstar habe neulich in einem Interview auf die Frage geantwortet, was er denn von dem deutschen Schlager halte, in dem davon die Rede ist, dass das Leben mit 66 Jahren überhaupt erst anfange. „Mit 66? Wer hat sich den Quatsch einfallen lassen?“

Seltsame Assoziationen

Ach ja, und zwischendurch macht Ilja Richter nach, wie ziemlich berühmte Sänger einst gesungen haben: Peter Maffay vor 45 Jahren („Du“), Vico Torriani vor 55 („Kalkutta liegt am Ganges“), aber da ist der immer noch junge Abend nicht mehr ganz so unterhaltsam, weil Richter besserwisserisch so tut, als habe er das Geheimnis der jeweiligen Sänger enttarnt, als sei das jeweils ein einziges und obendrein simples, das er, Richter, locker aus dem Stegreif verhohnepipeln könne. Außerdem assoziiert er nun zunehmend befremdlich: „Im Gesicht von Bata Illic spiegelt sich der ganze Kosovokonflikt wieder“, verkündet Richter, der auch bekundet „Menschenrassismus im heutigen Nachtleben“ ausgemacht zu haben, seines Alters wegen.

Irgendwann geht Richters lockere Plauderei mit manchmal gar nicht so lockeren Inhalten tatsächlich in eine Lesung über. Deren Inhalt lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Erstens: Kolja (14), Ilja Richters Sohn, ist der aufgeweckteste Bub aller Zeiten und außerdem ein Jungbrunnen für den Herrn Papa. Zweitens: die ideale Lebenskonstellation für ältere Herren ist die intime Verbindung mit jüngeren Damen und andersherum. Anne ist geboren, als Richter mit „Disco“ schon am Ende war und mithin halb so alt wie er. Sie ist ein Jungbrunnen für den Junggebliebenen.

Es ist dann so, dass sich zwischen Richters hibbeligen Wortkaskaden tatsächliche Stellen von literarischer Qualität verbergen: „So sind sie am Sonntag in die Kirche gegangen und später in den Krieg. Sie alle hingen an einem Spazierstock, einer Uhr und einer Zigarre“, schreibt Richter über die Generation seines Großvaters.

Bald schaltet er um auf Falsett

Doch anstatt seinen aufgeweckten Beobachtertalenten Raum zu geben, deklamiert er bald darauf völlig anlasslos, dass ihm „bei Gutmenschen“ schlecht werde, woraufhin er sich, ebenso anlasslos, seltsam eifernd dafür verkämpft, dass das Wort „Neger“ in den Kinderbüchern von Ottfried Preußler erhalten bleiben müsse, was man ja meinen darf, was jedoch als „Hach-wie-bin-ich-doch-furchtlos-und-freigeistig“-Aufhänger nicht taugt. Glücklicherweise darf dann der Pianist Ingvo Clauder, der die meiste Zeit untätig herumsitzt, ein paar Fetzen „Sag mir, wo die Blumen sind“ spielen, und ein paar Takte „Über den Wolken“. Clauder lässt die Klänge so elegant-effektvoll tropfen, wie Richter offenbar gerne mit Worten hantieren würde.

„Anleitungen zum Lieben älterer Herren“ kredenzt er noch, und seine Stimme, im Normalsingmodus matt aber nicht unangenehm, schaltet bald auf Falsett um, was seiner anderthalbstündigen Leseshow noch ein bisschen Extraaufgeregtheit verleiht. Und zum Schluss: schlechte Witze.