Was sind das für Leute, die seit mehr als einem Jahr im Mittleren Schlossgarten übernachten? StZ-Autor Philipp Elsbrock hat sich zu ihnen gesellt.

Stuttgart - Ich packe Zelt, Schlafsack, Isomatte und setze mich in den Zug. Hamburg-Stuttgart, knapp sechs Stunden. Mein Campingplatz ist leicht zu erreichen: In drei Minuten laufe ich vom Hauptbahnhof in den Schlossgarten. Bezahlen muss ich nichts. Zwei Tage will ich hier bleiben.

 

Die Ecke, die ich mir ahnungslos als Zeltplatz ausgesucht habe, wird häufig als Klo benutzt. Zerfleddertes Toilettenpapier liegt herum, Uringeruch hängt in der Luft. Meine direkten Nachbarn haben keine Plakate gegen Stuttgart 21 aufgehängt oder Fahnen für den Erhalt des Kopfbahnhofs gehisst. Ihre Zelte stehen schief, an einem hängt das Dach durch, vom nächsten weht die Abdeckung lose im Wind. Eine olivgrüne Plane davor spendet Schatten; sie ist an vier Stöcken festgemacht und mit Holzpflöcken an roten Bändern abgespannt. In der Mitte stehen Stühle und eine Bierbank, darauf sitze ich nun und höre zu. Vier Männer und zwei Frauen hocken neben mir. Unaufhörlich qualmen Zigaretten.

Party und Drogen

Ein schmaler Mann von 30 Jahren, auf dem Kopf ein roter Irokesenkamm, spricht mich an: "Machst du gerne Party?" Klar. Nicken, Grinsen. Schweigen. "Ja, und? Was denn? Trinken, rauchen, ziehen, Teile? Dann bist du genau richtig." An Drogen zu kommen sei hier keine große Sache. Alles sei möglich, verspricht mir der Mann, wenn ich nur das Geld habe. Sein Nachbar redet von einem "Kopffick" nach der letzten Nacht, er hätte gern eine Tablette, einem anderen fehlen 57 Cent für das nächste Bier.

Die meisten, die auf diesen paar Quadratmeter im Mittleren Schlossgarten abhängen, arbeiten nicht. Ralf, Ende 40, muss am nächsten Tag zu einer Untersuchung und einen Alkoholtest machen, damit er seinen Führerschein wiederbekommt. Eigentlich dürfte er nichts trinken, aber seine Augen sind glasig. "Ich schaff's nicht", sagt er. Wo ich herkomme, will einer wissen. Aus Hamburg, antworte ich.

Statt unter der Brücke im Schlossgarten

Die Sonne brennt und lässt das Goldpapier der Bierflaschen glitzern. Das Camp ist eine Insel, bis zum Festland sind es zehn Meter, so weit ist der Fußgängerweg entfernt. Von dort schauen die Parkbesucher herüber, manche bleiben stehen und studieren die Camper. Frank ist noch keine 40 Jahre alt, er hat ein wächsernes Gesicht mit kleinen Augen, einen Schwammbauch und fettiges Haar, das bis kurz über die Schultern reicht. In der Hand hält er eine Einkaufstüte, er schaut auf die anderen und fragt: "Ich gehe zu Rewe, soll ich was mitbringen?" Ich gebe ihm zwei Euro für Bier, auch von den anderen bekommt er ein paar Münzen. Frank zieht los.

Ein Zitronenfalter schaukelt unter der Plane vorbei, doch häufiger sind es Fliegen, die dorthin surren, wo der strenge Geruch herkommt. Ein paar Meter weiter spielt ein Mann mit langen grauen Haaren Gitarre, jemand begleitet ihn auf Bongotrommeln. "Bésame mucho", küss mich leidenschaftlich, singt der Gitarrist, es klingt saftig und rau und schön. Im Halbkreis um die Vortragenden sitzt das Publikum. Unförmige Gestalten sind es, an den Rand der Gesellschaft gekullert, mit grauen Gesichtern und schlechten Zähnen. Die Zeltstadt im Schlossgarten fängt manche auf, die sonst unter Brücken schlafen.

Widerstand, kein Hobbypunk

Als die Sonne tief steht, kommt Frank zurückgeschlurft. Er trägt die Tüte, die jetzt voll ist mit Dosen, Stuttgarter Hofbräu. "Reichen zwei?", fragt er mich. Zwei reichen. Später könne ich mehr bekommen, aber erst mal müsse er den anderen etwas geben. "Weißt du", sagt Frank, "das ist Anarchie. Wenn du dein Handy bei uns nachts auf dem Tisch liegen lässt, ist es am nächsten Morgen noch da. Da kommt nichts weg."

Demnächst, erzählt Frank, werde das Camp sich gegen Angriffe schützen. Wenn die Bagger anrückten und im Park Wasserrohre verlegt würden, dann gehe es nämlich richtig los: "Das hier ist Widerstand, kein Hobbypunk", sagt Frank. Er setzt sich zum Gitarrenspieler und verteilt die Dosen. Meine habe ich geöffnet, ich sitze im Zelt und mache mir Notizen, als Ralf hereinlugt. Er riecht nach Bier. "Du bist hier unerwünscht", sagt er. "Es ist besser, wenn du gehst. Bevor es eskaliert." Ich bin erstaunt: "Warum?", frage ich. Ich würde den Leuten nicht gefallen, mehr könne er nicht sagen.

Neulinge sind unerwünscht

Auch wenn eigentlich alles erlaubt ist - einen Reporter wollen die Anarchos dann doch nicht in ihrem Camp haben. Ich baue mein Zelt ab und verabschiede mich von Frank. Er zuckt mit den Schultern, wir geben uns die Hand.

Ich mache mich auf zu den Stuttgart-21-Gegnern. Hundert Meter weiter Richtung Hauptbahnhof steht ihre Zeltstadt. Sie erinnert an eine Wagenburg aus dem Wilden Westen, nur dass große Transparente nach außen abschließen und keine Planwagen.

"Widerstand als Lebensform"

Zum Eingang muss ich über einen Weg aus Holzlatten laufen, vorbei an einem haushohen weißen Zelt, das ein Indianertipi sein könnte. Ein Pärchen mit Rastazöpfen sitzt auf dem Boden und isst Reis mit Tomaten aus der Pfanne. Ich frage, ob noch Platz für mich sei. "Nein, leider nicht, zu voll", antwortet der Mann. Aber etwas weiter vorn, der Mann zeigt auf die Zelte links vor der Bahnhofsunterführung, dort sei gewiss noch etwas frei.

So treffe ich Eddi und seinen Hund Arko, der halb so groß ist wie er. Eddi beschreibt mir, wie er den Schlossgarten und seine Bewohner sieht. Die Punker mag er nicht besonders: "Für die geht es um den Widerstand als Lebensform." Dann gibt es "die Burg", zu der das Indianerzelt gehört. Auf diesem Platz wohnen die Härtesten, erklärt Eddi, jene, die den ganzen Winter hindurch im Park gelebt und gegen die Kälte Wärmeschutzplatten in ihren Zelten verbaut haben.

Nur wenige Zelte sind immer bewohnt

Gern würde er mir noch mehr zeigen, doch Eddi muss nach Hause. Zwar steht sein Zelt nur ein paar Meter neben uns, aber er sollte mal wieder etwas mit seiner Freundin machen. Das Zelt stehen zu lassen, ohne darin zu schlafen, ist nicht ungewöhnlich: Von den dreißig Zelten des Camps sind an diesem Tag nur fünf bewohnt.

Um halb acht wird es dunkel. Mit der Dämmerung kommt der Rauch, das große Tipi der Burg ist innen von einem Feuer erleuchtet. Auf der nahen Schillerstraße röhren die Autos, ihre Scheinwerfer streichen über die Zeltwand. Zwischen dem Laub raschelt es, die Ratten sind wach und huschen umher. Einmal laufen Stuttgart-21-Befürworter vorbei und grölen: "Haut den Grünen aufs Maul!" Nach Mitternacht ist es für kurze Zeit still. Dann rauschen wieder die Autos und Krankenwagen, lassen ihre Sirenen jaulen. Die Nacht ist erstaunlich warm, ich lege mich im T-Shirt in den Schlafsack. Ab und zu tropft etwas aufs Zelt - eine Platanenfrucht oder Vogelkot. Ich schlafe schlecht und wenig. Als ich um halb sechs aufstehe, kommt es mir vor, als hätte ich die Augen gerade erst zugemacht.

Gewissenhaftes Blockieren vor der Arbeit

Am Abend haben mir meine Zeltnachbarn von den gewissenhaften Blockierern erzählt, die jeden Morgen aufs Neue die Bauarbeiten beim Bahnhof behindern. Am Informationsstand der Stuttgart-21-Gegner frage ich nach dem Weg. Ein paar Minuten später stehe ich vor den Gittertoren, neben mir Dominik, Gila, Nina und wie sie alle heißen. Bevor es zur Arbeit geht, erledigen sie noch schnell die Protestpflicht.

Zehn Leute machen bei dem Schauspiel mit, das sich täglich vor der Zufahrt zum Grundwassermanagement wiederholt: Die Bauarbeiter kommen mit ihren Autos an und wollen auf das Gelände, damit sie von dort aus die Wasserrohre verlegen können. "Ich hab keinen Bock mehr auf das Kindertheater", sagt ein Sicherheitsmann hinterm Zaun. "Du bist ein Dummkopf, weil du nicht verstehst, wofür wir kämpfen", antwortet ein Demonstrant. Nämlich für den Kopfbahnhof und gegen die Milliardenverschwendung.

Protest wird zur Routine

Fünf Polizeibusse fahren vor, in Zweierreihen steigen die Bereitschaftspolizisten aus. Der Einsatzleiter fordert die Demonstranten über das Megafon auf, Platz zu machen. Wenn die Autos hineinfahren, blasen Dominik, Gila, Nina und die anderen mit ihren Trillerpfeifen oder schreien: "Baustopp jetzt! Baustopp jetzt!" Die Arbeiter in den Autos machen dazu ein unbewegtes Gesicht. Sie kennen das.

So oder so ähnlich geht das seit gut einem Jahr. Dienstags ist immer mehr los als an den übrigen Werktagen, manchmal kommen Hunderte. Meist muss die Polizei nicht eingreifen, dann verzögern die Protestler die Bauarbeiten nur um ein paar Minuten. Wenn sie sich sträuben, verteilen die Polizisten Platzverweise oder Anzeigen wegen Nötigung. An diesem Morgen sträubt sich niemand, nach anderthalb Stunden löst sich der Block der Demonstranten auf.

Proteste gehen weiter

Als ich von der Blockade zum Zeltplatz zurückkomme, kehrt ein Mann mit schwarzem Rauschebart verwelkte Platanenblätter zusammen. Wie einen kleinen Wall türmt er das Laub vor den Zelten als zusätzliche Abgrenzung auf. "Was geht?", sagt der Mann. Er schaut mich an und fragt leise, ob ich einen Sechskantschlüssel dabei habe. Er wolle die Wasserrohre aufschrauben, ein paar Steine reinschmeißen und sie wieder zuschrauben. "Niemand merkt das, bis die Rohre unter der Erde sind."

Im November kommt die Volksabstimmung. Irgendwann wird der Campingplatz im Park verschwinden. Mit dem Protest wird es wohl weitergehen, hier im Schlossgarten und außerhalb.