Forscher arbeiten bei der Immuntherapie an Möglichkeiten, wie das körpereigene Abwehrsystem Krebs bekämpfen kann. In manchen Fällen zeigen sich erstaunliche Erfolge.

Heidelberg - Das kurze Video ist beeindruckend. Dabei spielt es eine Nebenrolle: Es läuft während des Vortrags des Krebsforschers Dirk Jäger im Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg (DKFZ) unauffällig in einer Endlosschleife und zeigt, wie eine Zelle des körpereigenen Abwehrsystems einen Tumor attackiert und stückchenweise frisst. Vielleicht findet eine derartige Fressattacke auch im Körper von Georgios Kessesidis statt. Der junge Mann ergänzt den Vortrag Jägers mit seiner persönlichen Krankengeschichte. Eine Erfolgsstory, wie er findet, die er erzähle, „um anderen Menschen Mut zu machen, die sich in ähnlich ausweglosen Situationen befinden, wie ich noch vor kurzer Zeit“.

 

Der 27-jährige Mann aus Reutlingen hat Lungenkrebs und zwar eine sehr aggressive Form. „Das würden wir normalerweise nur bei über 70-jährigen Rauchern erwarten“, sagt Dirk Jäger, einer der behandelnden Ärzte und Direktor für Medizinische Onkologie im Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) in Heidelberg. Doch Kessesidis hat nie geraucht, sondern viel Sport getrieben und sich immer gesund ernährt. Zunächst wurde der Krebs nicht erkannt, immer wieder ging der junge Reutlinger zu verschiedenen Ärzten, die allesamt auf Asthma und Bronchitis diagnostizierten. Das lag nahe, da der Patient auch an Heuschnupfen leidet. Als Spezialisten schließlich den Tumor fanden, war es im Prinzip schon zu spät: Stadium vier, der Krebs hatte längst gestreut, eine Operation schien eher sinnlos. Patienten in diesem Stadium bleiben erfahrungsgemäß nur noch wenige Wochen bis Monate. „Die Diagnose war niederschmetternd“, erinnert sich Kessesidis. Die Chemotherapie zeigte keinerlei Erfolg. Im Gegenteil, der Tumor wurde noch größer. Schließlich erfuhr Kessesidis von einer klinischen Studie mit Krebspatienten in Heidelberg. Dabei handelt es sich um eine bestimmte Form der Immuntherapie, über die der Krebsmediziner Jäger aus wissenschaftlichen Gründen derzeit noch keine genauen Auskünfte geben kann.

Behandlung wirkt nicht bei allen Betroffenen

Der Tumor in der Lunge des Reutlingers schrumpfte durch die gezielte Immuntherapie von faustgroß auf die Größe einer kleinen Mandarine. „Möglicherweise handelt es sich auch nur noch um Narbengewebe“, sagt Krebsforscher Jäger. Kessesidis geht es gut, er strahlt und kann kaum über Nebenwirkungen berichten: „Etwas Durchfall hatte ich am Anfang und meine Schuppenflechte wurde schlimmer“. Jäger ist stolz auf diesen Therapieerfolg, warnt aber gleichzeitig vor zu übertriebenen Erwartungen: „Nicht bei allen Patienten spricht die Behandlung so gut an. Bei manchen Betroffenen wirkt sie gar nicht“.

Dennoch läutet die Immuntherapie eine neue Ära in der Krebsbehandlung ein. Im Jahr 2013 kürte das Wissenschaftsmagazin „Science“ die Immuntherapie zur Errungenschaft des Jahres. Im Prinzip geht es bei der Immuntherapie darum, den Tumor mit körpereigenen Kräften zu bekämpfen. Schließlich schaffen es Zellen des Immunsystems problemlos, in kürzester Zeit ein komplettes, transplantiertes Organ abzustoßen. Daher muss es auch möglich sein, dieses potente System auf Krebszellen gewissermaßen zu programmieren, so die Annahme der Wissenschaftler. „Zellen des Immunsystem können unterscheiden zwischen fremd und körpereigen. Fremde Stoffe werden von diesen Zellen erkannt, weil die fremden Proteine als sogenannte Antigene präsentiert werden“, erklärt der Immunologe Philipp Beckhove vom DKFZ. Dagegen werden Antikörper gebildet, und eine effektive, schnelle Immunantwort führt dazu, dass der Eindringling – egal ob Bakterium, Umweltgift oder Fremdstoff – eliminiert wird.

Tumorzellen nehmen zwischen fremd und körpereigen eine Art Zwischenstellung ein. Eine gesunde Zelle verändert sich auf ihrem Weg zur Krebszelle. Diese Veränderungen kann das Immunsystem erkennen, denn die veränderten Proteine werden auf der Oberfläche der Krebszelle als Antigene präsentiert. Dies nutzen Forscher aus und entwickeln spezifische Antikörper gegen Krebszellen. Allerdings entwickelt die Tumorzelle Abwehrstrategien gegen den Angriff. „Krebszellen wehren sich aktiv gegen die Immunzellen, indem sie Abschaltmoleküle produzieren“, berichtet Beckhove.

Checkpoint-Moleküle halten Abwehrmechanismen in Zaum

Wichtig für die Immunabwehr sind sogenannte Checkpoint-Moleküle. Sie halten die Abwehrmechanismen des Körpers in Zaum und verhindern, dass zu viel körpereigenes Gewebe zerstört wird. Bereits in den 90er Jahren entdeckten französische Forscher ein Protein, das sie CTLA-4 (cytotoxic T-lymphocyte-associated Protein 4) nannten. Es ragt aus der Oberfläche bestimmter Immunzellen heraus. Wenn dieses Checkpoint-Molekül ein Signal empfängt, stellt die Immunzelle ihren Angriff ein, auch wenn er in vollem Gang ist. Das Checkpoint-Molekül wirkt wie eine Bremse. Studien zeigten, dass viele Krebsarten diesen Schalter nutzen, um der körpereigenen Abwehr zu entgehen. Die Krebszellen senden das notwendige Signal aus, lassen die Immunantwort verstummen und wuchern weiter – obwohl das Immunsystem die entarteten Zellen erkannt hat. Daher kamen Forscher auf die Idee, einen Antikörper gegen CTLA-4 zu entwickeln, das sogenannte Ipilimumab: Es blockiert den Bremsklotz CTLA-4, die Immunantwort bleibt in Gang: gegen die Krebszellen. Allerdings bleibt eine derartige Therapie nicht ohne Nebenwirkungen, schließlich ist die Immunantwort entfesselt und wird nicht mehr gedämpft. In der Folge werden auch gesunde Zellen angegriffen. Viele Patienten leiden unter autoimmunen Reaktionen, weil dieser Checkpoint universell im ganzen Körper vorkommt.

Mittlerweile haben Forscher weitere Checkpoints gefunden, die weniger universell vorkommen. Dazu gehört beispielsweise ein Protein mit dem Namen PD-1 (Programmed Death), das bestimmte Zellen davon abhält, ihr zerstörerisches Potenzial zu entfalten. Es gibt bereits mehrere neue Antikörper, die diesen Bremsklotz lösen können. Dieses System scheint spezifischer zu wirken und ist daher mit weniger Nebenwirkungen behaftet. Auch bei Georgios Kessesidis geht die Therapie auf diesen Ansatz zurück. Noch ein halbes Jahr wird er weiter behandelt: Alle zwei Wochen fährt er nach Heidelberg und lässt sich eine Stunde lang mit der Antikörper-Infusion behandeln.