Wer am Neckar geboren ist, muss kein Fan des VfB Stuttgart sein. Rein theoretisch. Für StZ-Kolumnist Erik Raidt ist der Gang von Bad Cannstatt nach Untertürkheim eine Reise in die Vergangenheit.

Stuttgart - Der Bahnhof in Bad Cannstatt duldet keinen Stillstand. Menschen brechen auf, kommen an, wollen weiter, eilen mit dem Smartphone am Ohr durch die Gänge. Doch auf dem Platz vor dem Bahnhof sitzt ein Mann auf einer Bank – Schiebermütze, Netto-Einkaufstüte neben sich, zu seinen Füßen eine halbleere Bierflasche, die Arme hält er vor dem Körper verschränkt. Und während alle um ihn herum ihr Ziel zu kennen scheinen, der Vater mit dem Kinderwagen, die ältere Dame mit dem Hund, sitzt der Mann mit der Mütze fast reglos auf der Bank.

 

Von der Imbissbude nebenan weht scharfer Fettgeruch herüber, der Platz vor dem Cannstatter Bahnhof ist mit seiner Mischung aus historischen Gebäuden und Neubauten schön und hässlich zugleich. Diese Mixtur ist mir oft auf meiner 80-Zeilen-Reise durch Stuttgart begegnet. In einem Altbau an der Bahnhofstraße verkauft ein Import-und Großhandelsgeschäft Billigklamotten, auch auf dem Gehweg. Neben all dem grellbunten Sortiment hätte ich beinahe eine Tafel übersehen. Sie weist darauf hin, dass einst im großen Saal des Hotels Concordia Geschichte geschrieben wurde: Im April 1912 schlossen sich zwei Vereine zum VfB zusammen.

Alle bisher erschienenen Serienteile von Erik Raidts Stuttgart-Expedition finden Sie multimedial aufbereitet auch hier!

Zeit, aufzubrechen. An der Shoppingmall Cannstatter Carré vorbei, am Verkehrskreisel in die Daimlerstraße. Den Weg vergesse ich nie, ich bin ihn vor vielen Jahren gegangen, alle zwei Wochen. Damals gab es die Mall noch nicht, und die Mercedes-Benz-Arena hieß Neckarstadion. Natürlich kannst du dir deinen Fußballclub auch dann aussuchen, wenn du in Cannstatt geboren bist. Du musst nicht für den VfB sein. Aber das ist nur reine Theorie.

Ich habe keine Lust, am Wasen vorbeizulaufen und mir die halb aufgebauten Zelte anzuschauen, das Trachtenfest kommt früh genug. Und Cannstatt hat spannendere Ecken. Beim Bellingweg komme ich am Stadtarchiv vorbei. Wenn ich die Zeit dafür hätte, könnte ich dort zur NS-Geschichte der Stadt recherchieren oder in alten Zeitungen die Wochenmarktpreise aus dem Jahr 1886 nachschlagen, aber ich habe ein anderes Ziel: das Stuttgarter Utopia.

Alle bisher erschienenen Serienteile von Erik Raidts Stuttgart-Expedition finden Sie multimedial aufbereitet auch hier!

Rund um den Club Altes Zollamt haben sich Künstler niedergelassen, der Verein Contain’t hat einige Kreative aus den Wagenhallen hierher verpflanzt. Sie wohnen in alten Eisenbahnwaggons oder in einem hölzernen Gesamtkunstwerk, das an ein Piratenschiff erinnert. Neben den Künstlern sind die Großstadtgärtner auf das Gelände gezogen. Es blüht und grünt in Einkaufswagen, Badewannen und alten Autoreifen, die kunstvoll aufgeschlitzt und in Form von Schwänen über das Gelände verteilt sind. Für die Sache gibt es ein schönen Namen: Urban Gardening. Man könnte es auch anders nennen: Kleingärtnerei für Hipster. In ein paar Jahren wird es hier völlig anders aussehen, das Kulturbiotop soll sich in das Wohnviertel Neckarpark verwandeln.

Zurück zum Fußball. Hinter dem Stadion leuchtet das Clubhaus in VfB-Rot. Die Spieler trainieren heute unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Heißt es. Vor dem Haupteingang des Daimlerwerks in Untertürkheim biege ich links ab und steige am Straßenrand einen Hügel hinauf. Ein zweiter Zaungast kennt die Stelle ebenfalls. Wir haben freie Sicht aufs Trainingsgelände.