Zweieinhalb Wochen zu Fuß durch Stuttgart zu laufen, beflügelt die Fantasie. Der StZ-Redakteur Erik Raidt wähnt sich auf dem Weg von Sillenbuch nach Degerloch auf den Spuren von Winnetou, Old Shatterhand und Old Firehand.

Stuttgart - Sillenbuch, Stadtbahnhaltestelle Silberwald. Mir fallen dazu sofort die grün eingebundenen Karl-May-Bände ein, die ich in meiner Kindheit gelesen habe: Wie Winnetou, Old Shatterhand und Old Firehand gemeinsam in „Der Schatz im Silbersee“ gegen Schurken kämpften. Seit zweieinhalb Wochen bin ich nun in Stuttgart unterwegs, aber manchmal sind die aufregendsten Reisen doch die, die man nur in seiner Fantasie unternimmt.

 

Ich weiß nicht, welche Schätze in diesem Sillenbucher Wohngebiet verborgen sind, doch die schmucken Einfamilienhäuser lassen den Schluss zu, dass es nicht wenige sind.

Alle bisher erschienenen Serienteile von Erik Raidts Stuttgart-Expedition finden Sie multimedial aufbereitet auch hier!

Bei Karl May kämpften die Blutsbrüder stets für Gerechtigkeit. In der Sillenbucher Gorch Fock-Straße treffe ich auf die Spuren einer Frau, die ihren Kampf in der Wirklichkeit ausgefochten hat und nicht als Romanfigur zwischen zwei Buchdeckeln. Mitten im gutbürgerlichen Wohnviertel liegt das Clara-Zetkin-Waldheim – ein etwas verstecktes Schild erinnert an die Frau, die früh für Sozialismus und Gleichberechtigung stritt, ein weiteres Schild lädt zum Besuch des Waldheims ganz im Sinne von Clara Zetkin ein: „Zutritt für Jedermann!“ lese ich, und so banal dieser Satz klingen mag, dennoch berührt er mich mit seiner schlichten Klarheit.

Ich muss an diesem Tag wieder viel zu viel links liegen lassen. Das Naturschutzgebiet Eichenhain beispielsweise mit seinen mehr als 300 Jahre alten Bäumen und auch die Hügelgräber der Kelten im Degerlocher Wald. Dort begegnet mir ein stiller Waldkauz, der noch nie geflogen ist. Er hockt als Holzfigur auf einem Baumstumpf am Wegesrand. Zwischen dichten Ästen blitzt der Korb des Fernsehturms hervor, den Turm habe ich von vielen Orten der Stadt aus gesehen, noch vor Tagen war er von Mühlhausen aus gesehen nicht mehr als ein schmaler Strich am Horizont. Jetzt stehe ich an seinem Fuß. Ende des Jahres soll der Turm wieder geöffnet werden. Dann wird der Fernsehturm eine Sicherheitsnadel sein.

Alle bisher erschienenen Serienteile von Erik Raidts Stuttgart-Expedition finden Sie multimedial aufbereitet auch hier!

Aber die Degerlocher haben auch noch anderes zu tun, als sich über ihr Wahrzeichen den Kopf zu zerbrechen. Ich begegne Irena Rathgeb, berufstätig und Mutter zweier kleiner Kinder. Der Spagat zwischen Job und Familie ist ihr und ihrem Partner nicht immer leicht gefallen. Die 36-Jährige erzählt von der langen Suche nach einem Kitaplatz für ihre Tochter Paula. „Es gibt viele Angebote in Degerloch“, erzählt Irena Rathgeb, „aber es gibt auch viel Nachfrage. In meinem Freundeskreis wollen die meisten Mütter nach einem Jahr Pause wieder arbeiten.“ So ging Paula zuerst zur Tagesmutter, bevor sie einen Platz in einer städtischen Kita bekam, bei ihrer jüngeren Tochter Lia wird es wohl ähnlich laufen.

Irena Rathgeb kennt das ganze Spannungsfeld des modernen Familienmanagements, bei dem es auch um eine gerechte Verteilung der Lasten geht. „In der heutigen Berufswelt verlangen die Arbeitgeber höchste Flexibilität von dir, also wünsche ich mir von den Stuttgarter Kitas bei den Betreuungszeiten auch flexible Angebote.“ Und Degerloch? Punktet bei ihr wegen der Lage, den Sportangeboten auf der Waldau und den vielen Geschäften vor Ort. Nur der Verkehr in der Epplestraße sei manchmal eine Belastung. Das verstehe ich, Staugart am Neckar kann eine Nervensäge sein.