Was macht Pforheim anders als andere Städte? Seine Geburtenrate liegt an der Spitze der baden-württembergischen Geburtenstatistik. Ein Besuch in der gebärfreudigsten Stadt im Land könnte die Erklärung bringen.

Pforzheim - Ryan 3410 und David Elias 2590 steht auf der Schiefertafel. Die Namen wurden mit Kreide von Hand hingemalt. Ryan und David – so heißen zwei der jüngsten Einwohner Pforzheims. Die Zahlen benennen, wie viel Gramm sie nach der Geburt auf die Waage brachten. Ein mannshoher Storch hält die Tafel im Schnabel. Er ist im Foyer der Heliosklinik platziert. Besucher können dort jederzeit ablesen, wie viel Romy Hartmann gerade zu tun hat. Sie ist die Leitende Hebamme im größten Krankenhaus Pforzheims.

 

Aus gynäkologischer Sicht ist die Stadt keine gewöhnliche Stadt. Sie illustriert eine Wende im demografischen Wandel. Pforzheim hat die höchste Geburtenrate Baden-Württembergs. Landesweit kamen 2015 im Schnitt 1,51 Kinder je Frau zur Welt. In Pforzheim sind es laut Statistischem Landesamt 1,75. Die gleiche Kennziffer liegt in Stuttgart bei 1,29. Insgesamt kamen vergangenes Jahr 1356 Babys zur Welt, deren Eltern aus Pforzheim sind.

Im Kreißsaal der Heliosklinik, wo Romy Hartmann den Einsatz von 20 Hebammen koordiniert, herrscht Hochbetrieb. 2400 Geburten jährlich sind da normal. Viele der werdenden Mütter kommen auch aus dem Umland. Hartmann selbst hat schon 2500 Babys entbunden. Zur Routine ist ihr Beruf nach 25 Jahren dennoch nicht geworden. „Man muss sich das Wunder der Geburt bewahren“, sagt die 44-Jährige, die selbst kinderlos ist. In jedem Einzelfall sei das „ein ganz besonders großes Gefühl“.

Ob es sich bei den neuerdings ansteigenden Geburtenraten tatsächlich um eine Trendwende handelt, beantwortet die Hebamme eher zögerlich. Fakt ist: Ihre Klinik sucht dringend Geburtshelferinnen. Drei wurden eben eingestellt. „Wirtschaftlich bewegen wir uns gerade in einem Aufschwung“, sagt Hartmann, „da sind die Leute wieder zuversichtlicher.“ Kinder wertet sie als Zeichen des Optimismus.

Kinderkriegen ist keine Selbstverständlichkeit mehr

Das Kinderkriegen ist für die meisten jungen Frauen aber keine Selbstverständlichkeit. „Alle Kinder, die bei uns zur Welt kommen, sind das Ergebnis von Familienplanung“, sagt die Chefin der Helios-Hebammen. Die Mütter von heute seien „viel körperbewusster“ als früher. „Sie lassen nicht mehr alles mit sich machen.“ Andererseits gebe es beim Gebären so etwas wie einen Trend zurück zur Natürlichkeit. „Die Kreißsäle“, so Hartmann, „erinnern nicht mehr an ein Fitnessstudio.“

Pforzheims Oberbürgermeister Gert Hager findet es „grundsätzlich schön, wenn man eine junge Stadt hat“. Das kleine Geburtenwunder an der Enz hat aber auch seine Schattenseiten. „Es sprengt jede Kindergartenplanung“, sagt der Chef im Rathaus. Vor fünf Jahren waren in seinem Betreuungskonzept Ist und Soll noch in der Balance. Inzwischen fehlten aber 600 Kitaplätze.

Hager gibt sich Mühe, damit Pforzheim eine familienfreundliche Stadt bleibt. Das fängt im Rathaus an. Dort gibt es flexible Arbeitszeiten. Die städtischen Angestellten können ihren Dienst zwischen 6.30 und 20 Uhr versehen, wann immer sich das mit ihren familiären Pflichten vereinbaren lässt. Eltern können in Pforzheim zudem stundenweise Betreuungszeiten buchen, was es so nur selten gibt. Die Trendwende bei den Geburtenraten erklärt sich der Kommunalpolitiker mit einer geänderten Lebenseinstellung. Hager meint: „Auch Männer achten viel stärker auf ihre Work-Life-Balance.“

Wenn sich Firmen der Familie verpflichtet fühlen

Wie das in der Wirtschaft funktioniert, lässt sich woanders besichtigen: Dort, wo graue Fassaden die Stadt zur Enz hin abriegeln. Heizungsrohre und verzinkte Lüftungsschächte ziehen sich an den Mauern entlang. Die Blechdächer werden von Schloten überragt. Abluft kondensiert in der kalten Winterluft. In diesem scheinbar unwirtlichen Quartier residiert familienfreundliches Denken. Hier fabriziert die Firma Witzenmann, eines der ältesten Unternehmen Pforzheims, Schläuche aus Metall. Sie ist Weltmarktführer und vor Ort der größte private Arbeitgeber. Neben dem Fabrikareal ist vor fünf Jahren ein Neubau entstanden, azurblau gestrichen. An der Klinkerfassade prangt eine Glasplatte mit einer Zeichnung wie von Kinderhand. Sechs Männchen sind darauf zu sehen, die sich an der Hand fassen und im Kreis tanzen. Hier verbringt der Nachwuchs des Witzenmann-Personals seine Tage.

Der 1886 gegründete Konzern fühlt sich „in besonderem Maße dem Grundsatz verpflichtet, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie stetig zu verbessern“, so heißt es im Leitbild des Unternehmens. Klaus Kettner (34) und Thomas Brandner (40) wissen zu berichten, was diese Lyrik im Arbeitsalltag wert ist. Der Ingenieur Kettner hat ein Kind im Betriebskindergarten, sein Kollege Brandner ist eben aus der Elternzeit zurück. 65 der 1650 Witzenmann-Beschäftigten befinden sich gerade in der Familienpause, mehr als zwei Drittel Männer.

„Die Kolleginnen finden das toll“, erzählt Brandner. Kettner räumt ein, er sei von seiner Frau „ermuntert“ worden, sich zwei Monate freizunehmen, als das Kind zur Welt kam. „Aber wir Väter wollen das auch“, fügt Jochen Geiger hinzu, Direktor für Marketing, der schon zweimal in Elternzeit war. Erst sei er im Zweifel gewesen, ob das nicht der Karriere schaden könne, sagt er. „Die schmeißen dich raus“, habe ihn sein Vater gewarnt. Der Chef, Hans-Eberhard Koch, einer der Geschäftsführer, habe ihn jedoch ermuntert: „Mach das!“

Zum Karriererisiko werde die Familienpause nur dann, „wenn man zu Hause nichts tut“, sagt Personalchef Andreas Reetz. Zwei Jahre Auszeit, fügt er hinzu, „heißt nicht mehr am Ball zu sein.“ Jeder einzelne Arbeitnehmer, der das Privileg der Elternzeit in Anspruch nehme, müsse sich selbst darum kümmern, dass er während der Absenz im Betrieb nicht den Anschluss verliert. Familienfreundliche Arbeitszeiten, zu denen bei Witzenmann auch sehr flexible Gleitzeitregeln zählen, seien insgesamt aber „ein Pfund“ im Wettbewerb um qualifiziertes Personal. Dieses Pfund wiege bei Nachwuchskräften oft schwerer als ein paar Euro mehr Gehalt. Der jungen Generation gehe es dabei nicht immer nur um Familienplanung, sondern ganz allgemein um die „Gestaltbarkeit des persönlichen Lebens“. Für die Firma rechne sich das auf jeden Fall. „Der Kostenfaktor ist überschaubar“, sagt Reetz. Für das Unternehmen sei Flexibilität in solchen Fragen aber „deutlich produktiver und motivierender, als Anwesenheit zu erzwingen“.

Wohnraum, Geld und religiöse Bindung

Martin Bujard blickt aus der Ferne nach Pforzheim. Der Forschungsdirektor am Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, das seinen Sitz in Wiesbaden hat, rechnet mit einer abweichenden Geburtenstatistik. Maßstab ist für ihn die endgültige Kinderzahl von Frauen, die um 1970 geboren wurden. Diese Kennziffer gibt an, wie viele Kinder eine Frau am Ende ihrer Gebärfähigkeit wirklich hat. Um diese Zahl geht es im Grunde allen, die zukünftige Rentenzahler im Hinterkopf haben. Auch in dieser Statistik „ist Pforzheim auffällig“, sagt der Wissenschaftler. Im Durchschnitt hätten Frauen aus Pforzheim am Ende ihrer Fortpflanzungsphase 1,75 Kinder. Das ist zufällig die gleiche Zahl wie die aktuelle Geburtenrate – für eine Stadt auf jeden Fall ein sehr hoher Wert.

Spitzenreiter ist bei diesem Indikator jedoch Freudenstadt (1,86). Auf der Deutschlandkarte, in der Bujard geburtenreiche Regionen farblich markiert hat, sind die Kreise Ravensburg (1,78) und Biberach (1,81), aber auch der Ostalbkreis (1,76) oder Hohenlohe (1,78) dunkelrot – und damit noch ein bisschen kinderreicher als Pforzheim. Generell gelte für diese Landkreise, dass Familien dort leichter ausreichend Wohnraum fänden, eine gute Wirtschaftsentwicklung und eine relativ starke religiöse Bindung anzutreffen seien, fasst der Bevölkerungswissenschaftler zusammen.

Abgeschlagen sind die Universitätsstädte mit vielen Akademikerinnen. Unterschiedliche Geburtenraten führt Bujard aber auch auf den so genannten Kompositionseffekt zurück. Der meint den Bevölkerungsmix in einer Region. Im Fall von Pforzheim führt die große jesidische Gemeinschaft, die hier lebt, zu einem Kompositionseffekt, der den Kinderreichtum erklärt. Liegt es also nicht nur an kinderfreundlichen Rahmenbedingungen, dass in Pforzheim so viele Babys geboren werden?

Hohe Kinderzahl in der jesidischen Gemeinschaft

Mitten in der Stadt pulst das Leben. Dort liegt auch das Familienzentrum Au. Der Spielplatz gegenüber bietet nur Einblick, wenn auf der mehrspurigen Straße mal wenig Verkehr fließt. Aber das ist selten der Fall – schlecht für die Frauen mit Kindern, die das Familienzentrum besuchen. Die Einrichtung an der Calwer Straße ist ein idealer Ort, um der Frage nachzuspüren, woher der Kinderreichtum in Pforzheim kommt. Die Soziologin Doris Winter leitet das Haus seit 13 Jahren. „Auf einmal hatten wir 20 irakische Kinder“, erzählt sie. 3600 irakische Jesiden leben mittlerweile in der Stadt am Zusammenfluss von Enz, Nagold und Würm. Die Statistik sagt, jede der jesidischen Frauen habe im Schnitt 5,14 Kinder. Mehr als die Hälfte der Einwohner Pforzheims hat eigene Migrationserfahrungen oder Vorfahren, die nicht aus Deutschland kommen.

Fairooz und Farida sind Schwestern, beide jesidischen Glaubens, 23 und 24 Jahre alt. Sie haben acht Geschwister. Ginge es nach ihrer Mutter, wäre die Familie noch größer. Fairooz hat zwei Söhne. Der jüngste ist 14 Monate alt und heißt Sebastian. Fairooz sagt, sie wünsche sich höchstens noch ein weiteres Kind. Eine Tochter hätte sie gerne. Aber das will sie offensichtlich nicht dem Zufall überlassen. Sie nimmt die Pille. So einfach ist das also nicht mit der Geburtenrate, der Statistik und der Vorstellung, die jesidische Gemeinde sei unbegrenzt fruchtbar. Ein Kind in Deutschland zu bekommen, so Doris Winter, stehe auch für das Ankommen in Deutschland.

Fairooz will weiter Deutsch lernen, damit sie sich noch besser verständigen kann. Noch braucht sie ab und zu die Hilfe einer Dolmetscherin. Wie ihre Schwester sagt sie, dass es anstrengend sei, die Kinder in den Kindergarten zu bringen und danach immer rechtzeitig zum Deutschkurs zu erscheinen. Sie hat schon einen Anschlusskurs geplant, um nicht alle ihre mühsam erworbenen Deutschkenntnisse gleich zu vergessen. Mit Beginn des nächsten Jahres soll es wieder Zuschüsse für die Kinderbetreuung während des Kurses geben. Das Leben in Pforzheim erscheint der jungen Jesidin hektisch und anstrengend. Ganz anders als im Irak. Ein Kind aufzuziehen, sei hier mit mehr Stress und höheren Kosten verbunden. Deshalb wolle es gut überlegt sein, ob man noch ein Baby bekommt.