Weil sie in verrotteten Schulen lernen müssen und weniger Geld für ihre Bildung ausgegeben wird, wenden sich Kanadas Indianerkinder an die UN.  

Ottawa - Die jungen Algonquin-Indianer von Kitigan Zibi, 140 Kilometer nördlich der Hauptstadt Ottawa, wissen, dass sie sich glücklich schätzen können. "Wir sind froh, dass wir eine gute Schule haben", sagt der 15-jährige River Tenaso, der sich in der Kampagne "Shannen's Dream" engagiert. Die Schule von Kitigan Zibi mit Bibliothek, Cafeteria und Computerraum gehört zu den vorzeigbaren indianischen Bildungseinrichtungen Kanadas. River und seine Kameradinnen Shauna Jerome, Shawnesia Ottawa und Daisey Brascoupe wissen, dass es vielen indianischen Schülern nicht so gut geht, dass Schulen wegen Schimmelbefalls geschlossen werden, dass es keine Bücher, keine Computer, keine Spielplätze, manchmal nicht einmal eine Schule gibt. "Wir wollen Veränderungen sehen", sagen sie.

 

Ihre große Heldin ist Shannen Koostachin. Sie lebte in der indianischen Gemeinde Attawapiskat an der James Bay in Nord-Ontario. Nie habe sie eine "richtige Schule" gesehen, schrieb die damals 13-Jährige 2008. Jahrelang stand die Schule auf einem dieselverseuchten Gelände, Schüler und Lehrer wurden krank. Container wurden in die Gemeinde gebracht und als Schule genutzt. "An Januartagen saßen wir in unseren Klassenräumen mit Wintermänteln, um uns vor der Kälte zu schützen." Die Kinder wuchsen auf ohne wirkliche Bibliothek, richtige Turnhalle oder einen funktionierenden Computerraum. In anderen Regionen Kanadas hätten solche Verhältnisse die Regierung handeln lassen. Attawapiskat aber wurde vertröstet. Indianerminister versprachen eine neue Schule - und brachen ihr Versprechen. Entschlossen, das nicht hinzunehmen, fuhren Kinder von Attawapiskat nach Ottawa und Shannen machte dem Minister klar: "Wir werden nicht aufgeben."

Die Realisierung ihres Traums wird sie nie erleben

Mit anderen Jugendlichen war Shannen Sprecherin der "Vergessenen Kinder von Attawapiskat". Sie forderte sichere und auf der Kultur der Schüler basierende, nicht diskriminierende Schulen. "Schule ist eine Zeit für Träume", sagte sie. Die Realisierung ihres Traums wird sie nie erleben: im Juni 2010 wurde sie, 15 Jahre alt, bei einem Verkehrsunfall getötet.

Aber "Shannen's Dream" hat sich zu einer landesweiten Kampagne entwickelt, angestoßen von Kindern der First Nations, wie sich die indianischen Völker nennen, und ihren erwachsenen Unterstützern auch außerhalb der Ureinwohner. "Kanadas Verhalten gegenüber den Kindern der First Nations schafft so viele Verstöße gegen die UN-Konvention über die Rechte des Kindes, dass es schwer ist, sie alle zu registrieren", stellt Cindy Blackstock von der First Nations Child and Familiy Caring Society fest. Die schlimmste Verletzung betreffe eine tragende Säule der Konvention, das Verbot rassistischer Diskriminierung.

Erbärmlicher Zustand der Schulen

Genau das wird dem kanadischen Staat vorgeworfen. In Kanada ist Bildung eigentlich eine Aufgabe der Provinzen. Für die Schulbildung der Ureinwohnerkinder aber ist die Bundesregierung zuständig. Dabei besteht eine erhebliche Diskrepanz: Nach Berechnungen des Dachverbandes Assembly of First Nations geben die Provinzen für ihre nichtindianischen Kinder 7000 bis 9000 Dollar pro Jahr und Kind aus, der Bund dagegen 2000 bis 3000 Dollar weniger für die First-Nation-Kinder. Das bedeutet: weniger Lehrer und weniger Unterrichtsmaterial.

Hinzu kommt der erbärmliche Zustand etlicher Schulen. In Manitoba musste eine Schule geschlossen werden, weil das Wassersystem mit Schlangen verseucht war. Es gibt Gemeinden ohne festes Schulgebäude, die daher in Zelten Unterricht erteilen. In einigen Schulen wird in Schichten unterrichtet, weil es zu wenig Klassenräume gibt. Mancherorts ist Schimmel eine ständige Gesundheitsgefahr, Kinder sitzen im Winter mit Mantel und Handschuhen in der Schule, weil es so kalt ist. Ein Parlamentsbericht stellt fest, dass fast die Hälfte aller Schulen in den Reservateen in einem "armen Zustand" sei.

Der Bericht wird dem UN-Komitee übermittelt

"Shannen ist nicht mehr bei uns. Aber ihr Geist wird uns weiter leiten", sagt Shawnesia aus Kitigan Zibi. Eine 80-seitige Dokumention mit Briefen indianischer Kinder hat die Kampagne "Shannen's Dream" zusammengestellt. Der Bericht wird dem UN-Komitee für die Rechte der Kinder übermittelt. Anfang kommenden Jahres wird sich das Komitee im Rahmen der Überprüfung der Umsetzung der Kinderrechtskonvention mit Kanada beschäftigen. Dabei soll die Lage der Ureinwohnerkinder in einem der reichsten Länder der Welt eine wichtige Rolle spielen.

"In vielen indianischen Gemeinden Kanadas herrschen Dritte-Welt-Bedingungen", beschreibt Angus Toulouse, Ontarios Oberhäuptling, die Situation. Cindy Blackstock will mit einigen Kindern nach Genf reisen, um ihr Anliegen vorzutragen. "Das wird die Scheinwerfer auf Kanada richten", hofft sie. "Kanada hat dieses Problem so lange unter den Teppich gekehrt."