Am Mittwoch startet im Metropol das 11. Indische Filmfestival Stuttgart. Bis Sonntag zeigt es viele großartige Werke, die oft gar nichts mit Musicalkitsch zu tun haben. Schon der Eröffnungsfilm macht das deutlich.

Stuttgart - Mehr als eleganten Tanz und bunte Fummel zu bieten, das stand schon 2004, beim Start des Indischen Filmfestivals Stuttgart, ganz oben auf der Selbstverpflichtungsliste dieses damals als enorm exotisch empfundenen Events. Nur wenige haben dem vom Filmbüro Baden-Württemberg ausgerichteten Festival damals zugetraut, auch nur eine dritte Auflage zu erleben. Aber von morgen an bis Sonntag steigt im Metropol bereits das 11. Indische Filmfestival, und es verspricht, das bisher interessanteste zu werden, mit Beiträgen, die jedermanns Bild vom indischen Film auf den Kopf stellen.

 

Bollywood, das sei nun mal zuerst und vor allem Masala-Kino, wie das Genre der Herz-Schmerz-Hochzeitsfeier-Musicals heißt. So behaupten – statistisch völlig korrekt – jene, die sich problemlos einen einzig an Besucherzahlen orientierten Leinwandjahrmarkt zur jährlichen Feier der Städtepartnerschaft von Mumbai und Stuttgart vorstellen könnten.

Aber die Wahl des diesjährigen Eröffnungsfilms, „Siddharth“ (Mittwoch, 20 Uhr, Metropol) ist ein fast schon provokantes Bekenntnis zu einer ganz anderen Art indischen Films. Das Drama von Richie Mehta, der bei der Vorführung anwesend sein wird, erzählt von einem Vater, der seinen Sohn sucht. Die Familie ist arm, lebt in einem der Slums von Delhi, und damit alle über die Runden kommen, muss der 12-jährige Siddarth auswärts in einer jener Fabriken schuften, die dem Rest der Welt Kleidung zu höchst profitablen Einkaufspreisen liefern. Nun aber ist der Junge verschwunden, und der Vater lernt die hässlichsten Seiten des Systems kennen. „Siddharth“ mischt dokumentarische Elemente in die Fiktion und erinnert nicht als einziger Film des Festivals manchmal an Werke des italienischen Neorealismus.

Hohnbilder auf Facebook

„Fandry“ von Nagraj Manjule etwa (Donnerstag, 21 Uhr, Regisseur und Produzent sind anwesend) erzählt von einer Familie aus der Kaste der Unberührbaren auf dem Lande. Der Sohn Jabya wird von seinem Vater immer wieder vom Schulbesuch abgehalten, weil er beim Versorgen der Familie helfen soll. Mancher andere junge Kerl am Ort fährt schon ein eigenes Motorrad. Nicht nur soziale Schichten, sondern Zeitalter prallen hier aufeinander. „Fandry“ liefert eine Balance von Zorn, Komik und Hoffnung und ist doch nah dran an den Meldungen von brutalen Übergriffen gegen Angehörige der untersten Kasten, die weltweit das Bild von Indien erschüttern. „Fandry“ bringt das Widersprüchliche zusammen: die Bessergestellten, die Jabyas Familie verspotten, laden Hohnbilder von ihnen auf Facebook hoch.

Das Bollywood der ersten Nachkriegsjahrzehnte war auch in seinen Musicals nicht bloß die Frohsinnsmaschine, die europäische Fans so schätzen. Indische Filmemacher wurden stark beeinflusst von dem, was international an Filmkunst Furore machte, und das Indische Filmfestival Stuttgart zeigt, wie entschieden sich auch heute wieder Regisseure und Autoren von den Vorgaben der Unterhaltungsindustrie lösen. Die Dokumentation „The Last Goodbye“ (Sonntag, 20 Uhr) zeichnet das Leben von Singh Sandhu Sukhdev nach, der mit Dokumentationen wie mit Musicals der Wirklichkeit seines Landes zu Leibe rückte. Die nach Stuttgart kommende Regisseurin Shabnam Sukhdev ist die Tochter, die ihrem Vater lange entfremdet war und bei den Dreharbeiten aus den Erzählungen der Freunde und Kollegen ein völlig neues Bild von ihm gewann.

Ein Dokumentarfilm, der dem 1979 verstorbenen Sukhdev gewiss gefallen hätte, ist „My Name is Salt“ (Donnerstag, 20.45 Uhr) von Farida Pacha, eine Beobachtung des harten Lebens der Saisonarbeiter in den Salzmarschen von Gujarat. Die ergreifend schönen, aber eben nicht beschönigenden Bilder des deutschen Kameramanns Lutz Konermann machen alle Kommentare überflüssig. Wir sehen, wie Familien in einem in der Regenzeit zum Sumpf werdenden Gebiet das Salz aus dem Boden holen, wo tuckernde Dieselmotoren und vorzeitliche Hand- respektive Fußarbeit ineinander gehen und die Arbeit die Menschen ganz selbstverständlich restlos vereinnahmt. Und doch ziehen sich die Leute ihre besten Sachen an, weil nun die Kamera auf sie schaut, und man sieht mit Hoffnung, dass sie sich nicht abgeschrieben haben. Das ist eine ganz andere Zuversicht als die der netten Musicals.