Das Ausbildungsjahr startet: Welche Berufe sind gefragt, wer hat Chancen? Unsere Serie gibt Antworten und zeigt, welche neuen Berufe das digitale Zeitalter hervorbringt und welche alten Berufe überleben. Heute: Was muss der Facharbeiter von morgen können.

Stuttgart - Experten sind sich einig: Industrie 4.0 ist nicht nur ein Thema für technologiegetriebene Unternehmen wie Bosch, Trumpf, Festo oder SEW Eurodrive, die digitale Vernetzung betrifft alle Firmen. Und die neue Arbeitswelt ist auch kein Zukunftsthema mehr, „Industrie 4.0 ist da“, sagt Thomas Bauernhansl, Leiter des Stuttgarter Fraunhofer-Instituts für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA). Nicht nur die Produktion und damit Berufsbilder wie Werkzeugmacher und Mechatroniker, sondern das ganze Unternehmen wird sich dadurch verändern – also auch kaufmännische Berufe wie Industriekaufmann/frau, IT-Berufe wie den Fachinformatiker und wegen E-Commerce auch der Einzelhandel.

 

Doch zu einem hektischen Aktionismus in den Unternehmen hat die Entwicklung nicht geführt: Gerade mal zehn bis 15 Prozent der hiesigen Industrieunternehmen setzen sich intensiv mit Industrie 4.0 auseinander, schätzt Bauernhansl. Und dies obwohl „alle wissen, dass sich etwas ändern wird. Sie wissen auch ungefähr, in welche Richtung es geht“, fügt der Chef des IPA hinzu. Andrea Bosch, stellvertretende Geschäftsführerin für die Aus- und Weiterbildung bei der IHK Stuttgart, kann dies nur bestätigen: In den Unternehmen werde viel über die neue Arbeitswelt geredet, sagt sie. Die Unsicherheit sei groß. „Die Diskussion steht am Anfang“, fügt sie hinzu. Im Fokus steht bei den meisten Unternehmen derzeit weniger die Ausbildung als vielmehr die Weiterbildung von Mitarbeitern, die schon jahrelang in ihrem Beruf arbeiten.

Vom Fräsen zum Programmieren

Bauernhansl veranschaulicht die Probleme: „Was bedeutet digitale Kompetenz beim Werkzeugmacher“, fragt er. Schließlich seien die Werkzeuge nicht virtuell; physische Prozesse wie Drehen und Fräsen veränderten sich durch die Digitalisierung auch nicht, gibt er zu Bedenken. Und so geht die überwiegende Zahl der Unternehmen derzeit davon aus, dass „die Welt der Berufe im Kern stabil bleibt“, ist in einer Umfrage der IHK Stuttgart von Anfang 2016 nachzulesen. Und: „Notwendige Änderungen müssen nicht kurzfristig in die Wege geleitet werden, sondern werden evolutionär stattfinden“.

Dass sich Berufsbilder ändern, ist nicht neu. Beispiel Werkzeugmacher: Vor einigen Jahrzehnten stand bei ihm das Fräsen und Drehen am Werkstück im Mittelpunkt. Azubis mussten so lange üben, bis sie es quasi im Schlaf konnten, erzählt Bauernhansl. Spätere Generationen lernten das Handwerkliche zwar auch noch, doch der Schwerpunkt lag bereits auf der Programmierung computergesteuerter Maschinen. Und künftig? Die Maschinen von morgen sind vernetzt. Der Mitarbeiter muss nicht nur wissen, was auf einer Maschine passiert, er muss die ganze Linie im Blick haben. „Er muss die gesamte Prozesskette und zudem die Anforderungen der Kunden überblicken“, sagt Bauernhansl. Denn: „Ich kann zuerst drehen und anschließend fräsen oder andersherum. Die Anordnung der Arbeitsschritte kann die Qualität des Produktes, die Durchlaufzeiten und die Kosten beeinflussen. Mitarbeiter müssen mehr und mehr in solchen Prozessketten denken“, fügt er hinzu. Die dafür nötigen Informationen erhalten die Beschäftigten von den gigantischen Datenmengen, die Maschinen und Produkte in Echtzeit erfassen.

Bosch hat Ausbildung 4.0

Technologiekonzerne wie Bosch haben diese Veränderungen bereits auf den Weg gebracht. „Industrie 4.0 braucht eine Ausbildung 4.0 – und genau die bieten wir unseren Auszubildenden“, sagt Christoph Kübel, in der Bosch-Geschäftsführung zuständig für Personal. Aber auch bei dem weltgrößten Zulieferer „wird nicht plötzlich der Schalter einmal komplett umgelegt“, erläutert Siegfried Czock, Leiter Aus- und Weiterbildung bei Bosch in Deutschland. „An unseren Standorten laufen Industrie 4.0-Entwicklungen unterschiedlich schnell“. Herausforderung sei, die Azubis auf die aktuelle Welt, in der viele noch über Jahre hinweg arbeiten werden, und gleichzeitig auf die neue Welt vorzubereiten. Zunehmend wichtiger werden IT-Kenntnisse. Immer häufiger geht es um interdisziplinäre, berufsfeldübergreifende Projekte.

Bei Bosch Rexroth in Homburg/Saar etwa ist dies bereits Realität. Die Industrietochter der Stuttgarter hat in dem dortigen Werk eine Industrie 4.0-Pilotlinie aufgebaut, auf der Hydraulikmodule gefertigt werden. Im ersten Ausbildungsjahr lernen die jungen Menschen dort intelligente Arbeitsplätze kennen, die sich dem Kenntnisstand jedes Einzelnen anpassen und ihm – per Videoclip – die Handgriffe vorführen. Im zweiten und dritten Jahr geht es dann um die Anwendung des Wissens und um reale Aufträge. So bauen sie etwa einen Roboterstand um und ergänzen eine Funkstrecke, um Informationen mit einem Tablet austauschen zu können, steht in einer Bosch-Mitteilung. Auf den ersten Blick klingt dies nach gigantischen Herausforderungen. Allerdings hat sich die Technik selbst auch sehr verändert, häufig wurde sie anwendungsfreundlicher. War vor wenigen Jahrzehnten das Bedienen von Computern und das Schreiben von Rechnerprogrammen noch Aufgabe von hoch qualifizierten Akademikern, so lernen dies heute schon Kinder in der Schule, so Czock.

Schnelle Zusatzqualifikation

Und wie geht die IHK Region Stuttgart, bei der die Azubis ihre Prüfungen ablegen müssen, mit Unternehmen wie Bosch um, die einen eigenen Weg einschlagen? Kein Problem, sagt die stellvertretende IHK-Geschäftsführerin. Es kommt vor, dass Azubis zusätzlich für spezifische Firmenbelange etwa über Wahlqualifikationen, die drei bis sechs Monate dauern, qualifiziert werden. Geprüft wirde dies bei der IHK dann etwa über einen betrieblichen Auftrag. Bei aktuellem Bedarf der Unternehmen ist auch eine Zusatzqualifikation möglich, die von einer IHK regional entwickelt und dann auch nur regional geprüft wird. Als Beispiel nennt Bosch die Hochvolttechnik, die zunächst nur als Zusatzqualifikation angeboten wurde und erst später in der Ausbildung des Kfz-Mechatronikers integriert wurde. Der Vorteil dieses Vorgehens ist die Geschwindigkeit, erläutert Markus Tränkle, Ausbildungsberater bei der IHK. Es könne Jahre dauern, bis alle zuständigen Gremien sich deutschlandweit auf die Schaffung oder Veränderung eines Berufsbildes verständigt haben.