Wirtschaft und Politik kennen ein neues Modewort: Industrie 4.0. Die digitale Vernetzung von Mensch und Maschine mit einer neuen Stufe der Automatisierung wird massive Veränderungen der Arbeitswelt mit sich bringen. Die IG Metall will vorne mitmischen.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Die Zukunft hat längst begonnen – die Automatisierung und Digitalisierung ist in Vorzeigeunternehmen der Metall- und Elektroindustrie in vollem Gang. Dennoch bringt der Modebegriff Industrie 4.0 viel Schwung in die Diskussion über die Arbeitswelt von morgen. Wissenschaftler treiben den Prozess genauso voran wie vorausschauende Akteure von Wirtschaft und Gewerkschaft. Die Bundesregierung und die Landesregierung in Baden-Württemberg forcieren ihn mit einer großzügigen Förderpolitik. Nun gilt es, die Unternehmen und ihre Belegschaften in der Breite einzubinden, um für die Zukunft zu sein. Aus Sicht der Beschäftigten stellen sich elementare Fragen:

 

Wann kommt Industrie 4.0?

Industrie 4.0 ist zunächst nur ein Marketingbegriff und seit gut drei Jahren in der Welt. „Industrie 4.0 ist ein Kunstwort, in das viel hineininterpretiert wird“, sagt Wilhelm Bauer, der Leiter des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) in Stuttgart, das den Prozess von Anfang an begleitet. Die Erwartungen seien teilweise überzogen. „Technische Systeme müssen entwickelt, realisiert und finanziert werden – deswegen kommt 4.0 nicht über Nacht.“ Vielmehr handele es sich um eine Weiterentwicklung der Produktionssystematik und -logik – um eine Evolution statt Revolution. „Bis alle Fabriken durchgängig digital vernetzt und alle Prozesse und Wertschöpfungsketten durchgängig vollautomatisiert sind, wird noch Zeit vergehen“, sagt der Professor. „Es kann zehn bis 15 Jahre dauern, bis wir zu einem Reifegrad gekommen sind, bei dem wir sagen können: Das ist die Industrie 4.0.“ Dann werden viele Vorstellungen umgesetzt sein, andere nicht.

Sind menschenleere Fabriken das Modell für die Zukunft?

Eine menschenleere Fabrik hält wohl niemand für realistisch oder gar wünschenswert. Die Masse der Beschäftigten werde auf Dauer direkt im Betrieb tätig sein, sagt IG-Metall-Vize Jörg Hofmann voraus. Die Entwicklung könne aber in zwei Richtungen weisen: Möglich sei, dass der Mensch noch mehr zurückgedrängt werde und verbliebene Lücken im Automatisierungsprozess durch einfache Tätigkeiten schließe. „Dann hätten wir eine noch stärkere Spreizung zwischen den hochqualifizierten Tätigkeiten und dem Bereich der Einfachstarbeit – zu Lasten von qualifizierter Fach- und Ingenieurarbeit.“ Die IG Metall favorisiert daher einen anderen Weg: Mit Hilfe von Industrie 4.0 sollen belastende, sehr einfache Tätigkeiten automatisiert und stattdessen die Tätigkeit von Facharbeitern aufgewertet werden, indem die Arbeitssysteme mit mehr Handlungsspielraum und Verantwortung verbunden werden.

Ungesunde Tätigkeiten werden zurückgehen

Wird einfache Arbeit verschwinden?

Der VW-Arbeitsdirektor Horst Neumann freut sich schon auf die weitere Automatisierung – aus zwei Gründen: Erstens muss Volkswagen für einen Roboter heute nur ungefähr fünf Euro pro Stunde aufbringen – alle Faktoren einberechnet. Ein Beschäftigter kostet das Unternehmen hingegen mindestens 40 Euro. Diesen Kostenvorteil müsse man sich – gerade im Wettbewerb mit China und Osteuropa – zunutze machen, sagt Neumann. Zweitens sollte unmenschliche Arbeit seiner Ansicht nach abgeschafft und den Robotern überlassen werden. Gemeint sind ergonomisch belastende Routinetätigkeiten wie die Überkopf-Montage im Innenraum eines Fahrzeugs oder die stundenlange Versorgung von Nockenwellen mit sechsmal acht Tropfen Öl – dies im Minutentakt.

Einfache, zumal ungesunde Arbeit wird zurückgehen – ganz verschwinden wird sie nicht, sagt der Stuttgarter Wissenschaftler Bauer. In jedem Unternehmen gebe es Betriebswirtschaftler, die eine Balance zwischen der Investition in neue Technik und dem erreichbaren Resultat anstreben. Selbst wenn Roboter immer preiswerter werden, bleibt bei kleinen Stückzahlen oder kaum planbaren Abläufen Arbeit für Menschen erhalten, die sich für die Firmen eher rechne als teure Investitionen.

Die bekannteste, wenngleich umstrittenste Studie zu Industrie 4.0 vom englischen Oxford-Institut besagt, dass in den nächsten Jahren 45 Prozent der heutigen Jobs entfallen und durch neue ersetzt werden. Eingegrenzt wird der Zeitraum aber nicht. Zudem wird die Studie oft als Prognose eines massiven Beschäftigungsabbaus verstanden. Diese Interpretation sei unzulässig, so Bauer. Denn gemeint ist nicht, dass die Betroffenen auf der Straße stehen.

„Wenn wir führend bleiben in der Entwicklung und weiter der Maschinenausrüster der Welt sind, dann muss man keine Sorge haben, dass wir durch Industrie 4.0 Arbeitslosigkeit generieren“, sagt der IAO-Leiter. Die Menschen müssten sich dann für  andere Tätigkeiten weiterqualifizieren. „Wir müssen Initiativen ergreifen in den Unternehmen, in Gesellschaft und Politik, um die Kompetenzen in Mechatronik, Elektronik und Software zu verbessern – da sind wir nicht ausreichend gut aufgestellt.“

Sind die Unternehmen sensibilisiert?

Aus Sicht von Bauer ist das Thema in den Unternehmen noch nicht ausreichend angekommen. Zwar würden sich Innovationsführer aus der Region wie Bosch, Daimler, Festo und Trumpf intensiv damit beschäftigen. „Aber in der Breite unserer Wirtschaft – im Mittelstand und in kleineren Unternehmen – gibt es noch erhebliche Wissensdefizite.“ Bei dieser Erkenntnis stützt er sich auf eine Studie, die sein Institut im Auftrag der Beratungsfirma Ingenics AG erstellt hat. Für viele Unternehmen sei das Thema noch ziemlich vage, für manche sogar unbekannt. Dies sei ja auch ein Grund, warum die baden-württembergische Landesregierung jüngst die Allianz Industrie 4.0 ins Leben gerufen habe. Es sei richtig, dass die Politik alle mitnehmen wolle. „Wir brauchen nicht nur die Vorreiter, sondern auch die Breite.“

Wo liegen die Chancen – wo die Risiken?

Für VW-Vorstandsmitglied Neumann bringt „4.0“ gerade für Deutschland eine enorme Chance: Wenn in naher Zukunft die geburtenstarken Jahrgänge – die Babyboomer – in Rente gehen, könne ihre Arbeit durch Roboter kompensiert werden. „Es muss kein Personal wegrationalisiert werden, und wir können weiter junge Leute einstellen.“ Dies alles passe auf wunderbare Weise zusammen. Dies sieht der Wissenschaftler genauso: „Industrie 4.0 rettet uns vor dem demografischen Wandel.“ Beschäftigungspolitisch sei der Automatisierungsschub für Deutschland ein Glücksfall.

Weitere Chancen liegen in der individuellen Flexibilisierung: Wenn die Beschäftigten immer öfter in der Steuerung eingesetzt werden, müssen sie immer seltener neben der Maschine stehen. Manches könne sogar von daheim aus gesteuert werden. „Das haben wir heute im Büro und wird in der Fabrik auch kommen“, sagt Bauer. Es wäre ein Gewinn im Sinne der Lebensqualität.

Der Nachteil: der Mitarbeiter sei stets online vernetzt und damit selbst gut zu überwachen. Da lauert eine wichtige Aufgabe für die Tarif- und Betriebsparteien. Kontrolle sei nicht per se etwas Schlechtes, sagt Bauer, doch brauche man „betriebliche Regelungen, die eine missbräuchliche Nutzung von Informationen ausschließt“.

Herausforderung für die Mitbestimmung

Was will die Gewerkschaft?

„Die Gestaltungsoptionen sind noch offen“, sagt der Metaller Hofmann. „Wir wollen uns ganz vorne auf die Welle der Umsetzungsvorstöße setzen, die bisher noch eher pilot- und schemenhaft in der realen Wirtschaft erkennbar sind.“ Der Mensch dürfe nicht darauf reduziert werden, nur noch Automatisierungslücken zu füllen, so dass die Maschine letztendlich den Takt vorgibt. Vielmehr müsse man die Möglichkeiten der besseren Informationsaufbereitung und der höheren Flexibilität direkt vernetzter Produktionsprozesse nutzen, um qualifizierte Arbeit zu fördern und Arbeit interessant zu gestalten. Die Beschäftigten müssten mit einer höherwertigen Qualifikation dazu in die Lage versetzt werden, sich den Herausforderungen zu stellen.

„Jetzt geht es darum, eine konkrete Gestaltungspolitik zu entwickeln“, sagt der Gewerkschaftsvize. Das fange mit der mühsamen Suche an, welche Forschungsinstitute sich neben Fraunhofer IAO mit der Thematik auseinandersetzen. Er sieht Chancen für die Gewerkschaft, sich einzubringen. Die Weichen seien gestellt: „Aber wir brauchen noch mehr Forschung in eine arbeitsorientierte, humane Technikgestaltung.“ Eine solche Forschungspolitik mitzuentwickeln sei auch der Job der IG Metall, die vor einem Jahr beim Vorstand das Ressort Zukunft der Arbeit unter Federführung von Hofmann eingerichtet hat. Kernanliegen sei, dass sich Forschung und Politik stärker der Organisation von Arbeit in diesen Veränderungsprozessen zuwenden.

Ist die Mitbestimmung in Gefahr?

„Wir müssen Mitbestimmung teilweise anders gestalten“, sagt Hofmann. Schon seit Jahrzehnten gebe es Einzeltätigkeiten fernab vom Betrieb – bei den Monteuren von Telefonanlagen oder Fahrstühlen etwa. Dort konnte die IG Metall erfolgreich neue Betreuungsstrukturen etablieren. Diese Erfahrungen müssen nun in eine Welt mit vermehrter mobiler Arbeit übertragen werden, wo schon die physische Nähe zur Gewerkschaft geringer ist als im Betrieb. Also braucht es neue Beteiligungskonzepte der Gewerkschaft. Die digitale Vernetzung kann bei der Kommunikation sehr hilfreich sein, wie sich gerade dort zeigt, wo Betriebsräte via Intranet mit den Beschäftigten Kontakt halten. Hofmann regt an, verstärkt auch offene Blogs zu nutzen, um zeitgemäße Angebote der Interessenvertretung zu entwickeln.

Gibt es zukunftweisende Tarifverträge?

Die IG Metall hat bisher nur Einzelaspekte wie das mobile Arbeiten oder den Arbeitnehmer-Datenschutz in Tarifverträgen aufgreifen können – bei Bosch zum Beispiel. Hofmann betont: „Bei allem öffentlichen Trubel um Industrie 4.0 sind wir doch noch sehr weit davon entfernt, konkrete betriebliche Anwendungen zu sehen, die mehr sind als Insellösungen.“ Allerdings ist die Gewerkschaft wachsam, wo pilotartig Leichtbauroboter in der Montage eingesetzt werden – wie bei Daimler in Sindelfingen. Dort wird vor allem die Arbeitsorganisation überprüft: Was bedeutet es, wenn ein Kollege neben einem Roboter montiert, der nicht dem menschlichen Arbeitsrhythmus während der Schicht folgt, sondern einem programmierten Takt? Konkrete Partnerschaften gibt es mit DMG Mori Seiki (Gildemeister). Dort kann in einer integrierten Fabrik sehr flexibel jedes Teil online geordert werden. Mensch und Maschine rücken künftig eng zusammen.