Die Ex-Sprinterin Ines Geipel spricht über DDR-Staatsdoping und wie man nach der Wende im Westen davon profitieren wollte. Als Vorsitzende der Doping-Opfer-Hilfe hat sie nun eine Bilanz über die Situation der Geschädigten 25 Jahre nach dem Mauerfall vorgelegt.

Stuttgart – - Es ist ein dunkles Datum für den deutschen Sport: Am 23. Oktober 1974 wurde in der DDR die Arbeitsgruppe „Unterstützende Mittel“ gegründet. Ihr Ziel war ehrgeizig: Durch gedopte Siege, Medaillen und Erfolge sollten die DDR-Athleten als „Diplomaten im Trainingsanzug“ dem vermauerten Land zu internationaler Anerkennung verhelfen. Bis zu 15 000 Spitzensportler, großteils Minderjährige, wurden mit männlichen Sexualhormonen gedopt. „Sie wurden pharmakologisch hochgetunt und ihre Körper enteignet“, sagt Ines Geipel, die frühere Weltrekordsprinterin aus Jena. Als Vorsitzende der Doping-Opfer-Hilfe hat sie nun eine Bilanz über die Situation der Geschädigten 25 Jahre nach dem Mauerfall vorgelegt. Am Samstag gibt es dazu eine Tagung in Berlin.
Frau Geipel, wie ist die Situation der Dopingopfer 25 Jahre nach der Wende?
Die Situation ist von Sport und Politik all die Jahre gezielt verwartet worden und somit entsprechend katastrophal. Was wir zu sehen bekommen, ist die Blackbox des deutschen Sports. Bislang haben sich 700 Dopingopfer in unserer Beratungsstelle in Berlin gemeldet. Der Anteil an Westathleten ist dabei marginal. Das liegt daran, dass Doping im Westen im Gegensatz zum Staatsdoping in der DDR individualisiert war und das Tabu, sich bei uns zu melden, entsprechend hoch ist.
Welche Gründe gibt es für die Situation?
Vor allem politische. Der deutsche Sport nach 1990 war ganz scharf auf das Knowhow des Ostens. Es ging um die sogenannten Vereinigungseffekte, denn auch die neue Bilanz sollte wieder stimmen. Was störte – die schweren Hypotheken und die Schäden – blieb außen vor. In Sachen Doping haben sich Mentalitäten, Strukturen und Affinitäten von Ost und West in aller Ruhe vereinigen können. Es gab keinerlei Satisfaktionsbedarf. Dopingopfer? Die standen doch eh auf der Verliererseite.
Können Sie die gesundheitliche Situation der Dopingopfer etwas konkreter beschreiben?
Es gibt ganz typische Krankheitsmuster, je nach Substanz. Steroide bedeuten neben Hormonveränderungen auch höhere Trainingsbelastungen und damit auch extremer Verschleiß der Körper. Der Rücken ist kaputt, der Skelettapparat, und es gibt oft Arthrosen in den Gelenken. Die Organe sind krank: das Herz, die Nieren, Leber, Lungen, Magen. Häufig sind auch Erkrankungen des Kreislaufs und des Stoffwechsels, da geht es um Venenverschlüsse oder gestörte Lymphsysteme. Auffällig ist auch die hohe Zahl der psychischen Erkrankungen, die Psychosen, Depressionen, Bulimie, Suizidversuche. Bei Athletinnen gibt es häufig gynäkologische Erkrankungen: entfernte Eierstöcke, Fehlgeburten, Missbildungen in der zweiten Generation. Auffällig hoch ist auch die Zahl der Tumor- und Krebserkrankungen. Und: auch die Todesliste ist mittlerweile lang.
Welche Ziele verfolgen Sie mit dem Dopingopfer-Hilfe-Verein?
Der DOH ist eine Institution, die über das Bild konkret Auskunft gibt, was unserer Gesellschaft der Sport wert ist. Wir sind fanatisch, wir jubeln, klar, aber wenn die Medaillen verteilt sind, wenn der Glanz Geschichte ist, dann sieht das Ganze oft nicht mehr so schön aus. Aber der DOH kann nicht Verwalter dieses Bildes sein. Was wir fordern, ist eine andere Idee und eine andere Haltung zum Sport, das heißt auch eine Struktur, die unsere Talente maximal schützen kann.
Was machen Sie konkret?
Als Grundlage für diese Forderung haben wir jetzt Hunderte von Fällen systematisch zusammengetragen. Die Entschädigung, die es 2002 nach dem Dopingopfer-Hilfe-Gesetz gegeben hat, war wichtig, aber einmalig. Reichlich 9000 Euro für einen völlig kaputten Körper, das reicht beileibe nicht aus. Wir kämpfen nach wie vor um eine politische Rente für die DDR-Opfer, weil es die Anerkennung staatlicher Willkür bedeuten würde. Bitter, dass sie sich vor den Sozialgerichten heute noch immer anhören müssen: Was? Staatsdoping? So was hat es doch gar nicht gegeben.
Und darüber hinaus?
Wir sind dabei, einen Hilfsfonds für Akutfälle aufzubauen, in den vor allem der Sport investieren müsste. Und wir arbeiten am Aufbau einer tragfähigen Nachsorgestruktur. In letzter Zeit melden sich immer häufiger Athleten, die nach 1990 aktiv waren und heute in Not sind. Es geht schon lange nicht mehr um Vergangenheit allein, sondern immer stärker um das Jetzt.