Initiativen für Asylsuchende gibt es viele. Doch nun werden Betroffene selbst aktiv und schließen sich zusammen. Junge Migranten im Kreis wollen anderen Zuwanderern helfen und sich ehrenamtlich engagieren.

Kreis Böblingen - Sie sind jung, intelligent und ehrgeizig. Und sie sind viele und werden immer mehr. Flüchtlinge zwischen 20 und Mitte 30 haben sich vor anderthalb Jahren zu einer Gruppe zusammengeschlossen, um sich gegenseitig zu unterstützen. Nun haben sie einen Verein gegründet. „Wir sind da“ heißt er. Der Name ist Programm: Die jungen Leute wollen dazugehören zur deutschen Gesellschaft, sich einbringen und engagieren, möglichst schnell ihren Platz finden.

 

Einer von ihnen ist Yusuph Jagana. Der 33-Jährige aus Gambia ist ein Paradebeispiel für gelungene Integration. Vor 16 Monaten kam er gemeinsam mit seiner Frau nach Deutschland. Die übliche Geschichte: eine dramatische Flucht über Land und Meer. Er wollte frei sein, sagt Jagana. Das sei in seinem Heimatland nicht möglich. „Dort muss ich sehr aufpassen, was ich sage, kann meine Meinung nicht frei äußern.“

Der Gambier lernt auf eigene Initiative Deutsch

Als Gambier hat Yusuph Jagana keine guten Karten, in Deutschland bleiben zu dürfen. Trotzdem machte er sich vom ersten Tag seines Hierseins daran, sich eine Zukunft aufzubauen. Einen Sprachkurs durfte er nicht besuchen. Also brachte er sich Deutsch selbst bei – mithilfe von Internet, Fernsehen und Büchern. So gut waren seine Sprachkenntnisse, dass er bereits ein knappes Jahr später einen Sprachtest der Samariterstiftung bestand. Diese suchte Kandidaten für ihr Projekt Flüchtlinge in der Altenpflege. Jagana absolvierte ein dreiwöchiges Praktikum im Seniorenzentrum am Parksee in Leonberg. „Wir waren begeistert von ihm“, sagt Anke Sommer, die Chefin der Einrichtung.

Seit September ist Jagana nun Auszubildender im Pflegeheim. „Er kommt sehr gut an bei unseren Bewohnern, und sein erstes Halbjahreszeugnis aus der Berufsschule war hervorragend“, berichtet Sommer. Yusuph Jagana macht die Arbeit großen Spaß, auch wenn sie für ihn Neuland ist. In seiner Heimat arbeitete er als Taxifahrer, Mechaniker und Supermarktverkäufer. „Altersheime gibt es bei uns nicht.“ Doch Berührungsängste hat der junge Mann keine. „Wir planen mit Yusuph für die Zukunft“, sagt Anke Sommer. Sie hofft, dass der junge Mann auch nach seiner Ausbildung in Deutschland bleiben darf. „Altenpfleger ist ein Mangelberuf. Da suchen wir händeringend Leute.“

Die Gruppe ist wie ein große Familie

Aufmerksam geworden auf das Ausbildungsprojekt ist Yusuph Jagana in der Gruppe „Wir sind da“. Studium, Weiterbildung, Berufseinstieg – das sind die wichtigsten Themen bei den Gruppentreffen. Auf dem Programm stehen zum Beispiel Firmenbesichtigungen und Gespräche mit Unternehmern, aber auch Exkursionen, zum Beispiel in den Landtag. Die politische Bildung liegt Isaac Gonzales sehr am Herzen. Der Berufsschullehrer aus Sindelfingen hat die Gruppe im Herbst 2015 gemeinsam mit einigen Flüchtlingen ins Leben gerufen. „Die Gründer von damals stehen zumeist längst im Beruf und sind zum Teil weggezogen“, berichtet er. Neue sind hinzugekommen. „Wir sind mittlerweile mehr als 300 Leute.“ Zeit, einen Verein zu gründen, findet Gonzales. Die Vorteile: „Wir können einfacher Projekte realisieren und Fördermittel beantragen.“

Im ganzen Landkreis sind die Flüchtlinge zu Hause, haben Untergruppen gegründet. Sie treffen sich in Böblingen, Sindelfingen, Holzgerlingen, Steinenbronn, Renningen und Rutesheim. „Die Gruppe ist für mich wie meine Familie“, sagt Yusuph Jagana: „Wenn einer zum Beispiel umzieht, fragt er im Chat um Hilfe. Und es finden sich immer ein paar, die Zeit haben.“ Viele neue Freunde hat der Gambier gefunden. „Ich kenne nun Afghanen, Iraner und Syrer. Und sie sind ganz anders, als ich es mir nach Fernsehberichten vorgestellt habe.“

Die Dolmetscherin und die politisch Engagierten

Sindelfingen - Nur etwa zehn Prozent der mehr als 300 Mitglieder von „Wir sind da“ sind Frauen. Salida Al Rubayee ist eine von ihnen. Die 23-jährige Irakerin ist erst vor 15 Monaten nach Deutschland gekommen. Seit Juli lebt sie mit ihren Eltern und den vier jüngeren Geschwistern in Sindelfingen. Die jüngste Schwester ist erst zwei Jahre alt. „Sie ist auf der Flucht während der Überfahrt übers Mittelmeer fast ertrunken“, erzählt Salida Al Rubayee.

Seit vier Wochen besucht sie nun einen Integrationskurs, Deutsch spricht sie aber schon ziemlich flüssig. Denn sie hat die Wartezeit gut genutzt, sich mithilfe von Internet und Büchern selbst die Sprache beigebracht. Als Dolmetscherin ist sie für ihre Familie unersetzlich. Sie übersetzt für ihre Eltern beim Kinderarzt, im Kindergarten und auch in den Schulen, die die jüngeren Geschwister besuchen.

Ihre Sprachkenntnisse setzt die junge Frau aber auch ehrenamtlich ein. Für den Verein Nika in Holzgerlingen übersetzt sie regelmäßig. Erst kürzlich ist ein Nika-Projekt zu Ende gegangen, bei dem Salida Al Rubayee Flüchtlingen in mehreren Wohnheimen des Kreises das deutsche Schulsystem und die Kinderrechte erklärte.

Für sich selbst hat sie ein großes Ziel: Sie möchte unbedingt ihr in Bagdad begonnenes Studium der Politikwissenschaften fortsetzen. Der Weg dahin ist noch lang. Erst muss sie noch mehrere Sprachkurse absolvieren und diverse Sprachprüfungen bestehen, dann noch einen Aufnahmetest für die Uni machen. Doch die 23-Jährige ist sicher, dass sie das schaffen wird.

Sindelfingen - Fahim Zazai hat einen herrlichen englischen Akzent, wenn er Deutsch spricht. Das liegt daran, dass der 28-Jährige in Indien Betriebswirtschaft studiert hat – in englischer Sprache – und anschließend als Finanzmanager für eine politische amerikanische Organisation in Afghanistan arbeitete. Das brachte ihm Ärger mit den Taliban ein – und er musste fliehen. Seit anderthalb Jahren lebt er in Deutschland, noch immer in einem Flüchtlingsheim in Sindelfingen. Der Wunsch nach einer eigenen Wohnung hat sich bisher nicht erfüllt.

Das hindert den jungen Mann aber nicht daran, sich tatkräftig zu engagieren. Er gehört zum Führungsteam von „Wir sind da“, ist einer der Gruppenleiter und organisiert politische Workshops an der Universität Tübingen und an der Akademie Bad Boll. Auch beruflich hofft er, bald Fuß zu fassen. Zurzeit absolviert er ein sogenanntes Brückenpraktikum im Mercedes-Benz-Werk in der Abteilung Verkauf.

Auch sein Landsmann Milad ist im Moment bei Daimler – in der Produktion. Das Handwerkliche liege ihm aber nicht so, sagt Noormohammadi. Ihn zieht es eher in den Journalismus, am liebsten als Fotograf. Er hat auch schon bei einer Lokalzeitung hospitiert. In seiner Heimat freilich konnte er nicht studieren, sondern arbeitete mangels Alternativen als Taxifahrer und Maurer.

Gemeinsam mit seinem Freund Fahim leitet der 28-Jährige die Sindelfinger Gruppe von „Wir sind da“. Immerhin hat er schon ein eigenes Zimmer – in einer Wohngemeinschaft in Sindelfingen.