In den Eisenbahnwohnungen am Nordbahnhof leben viele Gastarbeiter. Der Sozialdatenatlas stuft das Viertel als sozialen Brennpunkt ein.  

Stuttgart - Musa Karatay wohnt seit mehr als 20 Jahren im Nordbahnhofviertel - und fühlt sich wohl. Für den türkischen Einwanderer ist der Nordbahnhof ein Stadtteil mit wenig Verkehr, einem Park in der Nähe und einer internationalen Einwohnerschaft. "Wir leben gut zusammen", findet der 49-jährige Eisenbahner. Dass der jüngste Sozialdatenatlas der Stadt das Viertel erneut als einen sozialen Brennpunkt in Stuttgart ausgemacht hat, stört Karatay nicht.

 

Die Statistiker sagen, dass im Nordbahnhof Armut und Arbeitslosigkeit überdurchschnittlich hoch sind, dass Jugendamt und Jugendgerichtshilfe dort ziemlich viel zu tun haben und zudem weit weniger Kinder den Sprung aufs Gymnasium schaffen als andernorts. Karatay kontert: "Ich habe meine vier Kinder gefördert; heute studieren sie oder sind auf guten Schulen."

Die Strukturen ändern sich nicht

Während Musa Karatay sich von Statistiken nicht beirren lässt, zerbrechen sich Stuttgarts Kommunalpolitiker den Kopf darüber, warum alle bildungspolitischen Maßnahmen der vergangenen Jahre nicht gefruchtet haben - und die sozialen Brennpunkte dieselben sind wie vor zehn Jahren. Wer sich nicht darüber wundert, ist Stuttgarts Integrationsbeauftragter Gari Pavkovic: "Wir haben eine Eigendynamik, die sich aus dem freien Wohnungsmarkt ergibt. Die sozial Schwachen konzentrieren sich in den Stadtteilen, in denen die Mieten niedrig sind und die Infrastruktur schlecht." Und die Mittelstandspaare, die doch in diesen schwierigen Stadtteilen wohnen, verlassen sie spätestens dann, wenn Kinder dazu kommen.

"Sie wollen ihr Kind nicht auf eine Schule schicken, in der der Migrantenanteil bei 90 Prozent liegt. Deshalb ziehen sie nach der Familiengründung ins Umland", stellt Pavkovic fest. So tragen die Familien ihren Teil dazu bei, dass sich die Strukturen nicht ändern.

Am Beginn stand ein Eisenbahnausbesserungswerk

Günstig sind die Mieten am Stadtrand, in Gegenden, die verkehrlich stark belastet oder die von Industriebetrieben geprägt sind. Das Fundament für problematische Wohngebiete wurde in vielen Fällen schon vor Jahrzehnten gelegt. Der Veielbrunnen in Bad Cannstatt ist so ein Beispiel, dessen industrielle Prägung bis ins 19.Jahrhundert zurückreicht, wie Jürgen Lotterer vom Stadtarchiv erläutert. Am Beginn standen ein Gaswerk und ein Eisenbahnausbesserungswerk, nach und nach folgten Fabriken und in der Umgebung einfache Wohnungen für die Arbeiter. "Damit war eine Struktur vorgegeben, die das Viertel bis heute prägt", so Lotterer.

Auch im Nordbahnhofviertel entstanden Ende des 19.Jahrhunderts die ersten Wohnungen für Bedienstete der Eisenbahnverwaltung, zwischen 1928 und 1930 folgten weitere Bauten für Angestellte von Bahn und Post. In den 1960er Jahren verließen wegen des geringen Standards und der Verkehrsbelastung viele alte Mieter das Viertel, ausländische Bahn-Mitarbeiter zogen stattdessen ein. "Heute achten die Stadtplaner darauf, dass die Mischung der Bewohner in Wohngebieten stimmt, damals war das nicht der Fall", sagt Bruno Pfeifle, der Leiter des Jugendamts.

Der Bezirksvorsteher warnt vor Schwarzmalerei

Auch in den 1950er Jahren, als die Hochhaussiedlungen in Mönchfeld entstanden, in der vor allem heimatvertriebene Flüchtlinge unterkamen, war die Mischung der Bewohnerschaft kein Thema. "Damals brauchte man schnell Wohnraum für viele Menschen", sagt Bernd-Marcel Löffler, der Bezirksvorsteher von Mühlhausen. In den 1960er Jahren folgten die Hochhäuser in Freiberg, in den 70er Jahren die Siedlungen in Neugereut. "Damals galt die Devise, je höher umso angesehener. Angesiedelt haben sich viele Arbeiter und kleine Angestellte", sagt Löffler.

In die Schieflage geraten seien die Gebiete erst durch die Fehlbelegungsabgabe, die viele dieser Mieter vertrieben und den Anteil der Sozialfälle beständig habe steigen lassen. Der Bezirksvorsteher aber warnt vor Schwarzmalerei: "Mönchfeld und Neugereut sind harmlos, wenn man sie mit Vororten von Städten wie Berlin oder Frankfurt vergleicht."

Die Bilanz fällt gut aus

Auch Ingrid Macher, die Leiterin der Rosensteinschule im Nordbahnhofviertel, warnt vor falschen Schlüssen. An ihrer Grund- und Hauptschule liegt der Migrantenanteil bei fast 90 Prozent, über die Zahl der Bonuskartenempfänger will sie erst gar nicht reden. 117 Kinder besuchen den islamischen Religionsunterricht und nur 23 den evangelischen. Bei fast jedem zweiten Elterngespräch zieht Macher einen Dolmetscher hinzu. Aber: "Die meisten Kinder streben nach einem höheren Schulabschluss", sagt Macher, die froh ist um die wachsende Zahl der Berufsfindungs- und Selbststärkungsprogramme für Schüler.

Nur wenige Straßen entfernt in der Kita Rosenstein stellt die Leiterin Charlotte Krautter fest, dass immer mehr Eltern Zweit- und Drittjobs annehmen müssen, um über die Runden zu kommen, und dabei immer weniger Zeit für ihre Kinder haben. Krautter ist konfrontiert mit Kindern, die jeden Tag mit derselben Hose kommen, und mit Eltern, die zwar eine Schule besucht haben, aber weder lesen noch schreiben können. Trotzdem fällt ihre Bilanz gut aus: "Fast alle unsere Kinder aus dem Hort haben den Sprung in die Realschule oder das Gymnasium und damit in ein anderes Stadtviertel geschafft", erzählt Krautter.