Auf dem Kongress „Smart Grid“ in Stuttgart diskutieren Elektroingenieure über den Strukturwandel in der Stromversorgung.

Stuttgart - Wenn im Norden Deutschlands viel Wind weht und im Süden großflächig die Sonne scheint, dann produzieren diese beiden regenerativen Energiequellen zu viel Strom: „Von 2007 bis 2011 ist die nicht eingespeiste Energiemenge von 0 auf 45 Gigawattstunden gestiegen“, berichtete der Präsident des Verbands der Elektrotechnik (VDE), Alf Henryk Wulf, auf dem Stuttgarter Kongress „Smart Grid – Intelligente Energieversorgung der Zukunft“.

 

Weil auch, wie es Wulf formuliert, die „Anzahl der Eingreif- und Gefährdungstage“ zunimmt, machen sich die Elektroingenieure Sorgen um das wachsende Risiko größerer Störungen mit überregionalen Auswirkungen. So sei man im vergangenen kalten Februar „nur knapp an einem Blackout vorbeigeschlittert“, so Wulf. Die Situation sei zwar noch nicht dramatisch, dennoch müsse man schnellstens handeln. Vor allem müsse das Stromnetz im Hinblick auf das „Zieldreieck von Versorgungssicherheit, Umweltverträglichkeit und Wirtschaftlichkeit“ so weiter entwickelt werden, dass es neuen Belastungen standhält.

Strom fließt in beiden Richtungen

Und die sind keineswegs trivial. Während das Hochspannungsnetz seit jeher darauf ausgerichtet ist, auch den Stromausgleich zwischen den Kraftwerken zu gewährleisten, floss der Strom in den regionalen und örtlichen Verteilnetzen früher wie in einer Einbahnstraße nur in einer Richtung: vom Erzeuger zum Verbraucher. Doch inzwischen fließt hier immer mehr Energie auch zurück: aus Fotovoltaikanlagen, Windrädern und Blockheizkraftwerken. So werden inzwischen 97 Prozent der erneuerbaren Energien über diese Verteilnetze eingespeist. Dieser bidirektionale Transport lässt sich technisch zwar bewältigen; doch weil es bisher noch keine einheitlichen Normen für die Lösung dieses Problems gab, blieb die Nachrüstung der Verteilstationen hinter dem eigentlich erforderlichen Ausbau zurück.

Bis zum Jahr 2020 erwartet der VDE, dass zeitweise der gesamte Strombedarf in Deutschland durch erneuerbare Energien gedeckt wird. Daher müsse bis dahin „ein komplett neues integriertes Gesamtsystem“ verwirklicht werden, Daher fordert der VDE den „Umbau und die Flexibilisierung des gesamten Systemdesigns“, wobei alle drei Teile dieses Systems zu berücksichtigen seien: Kraftwerkspark, Speicherkapazitäten sowie Netzinfrastruktur.

Tief greifender Wandel

Wie tief greifend dieser Wandel ist, erläutert Jochen Kreusel, Vorstandsmitglied des VDE und Vorsitzender der Energietechnischen Gesellschaft: Bisher habe man es bei der traditionellen Stromversorgung deutschlandweit mit rund 10 000 Komponenten zu tun gehabt – von den Kraftwerken bis zu den Schaltanlagen. In Zukunft müsse man mit bis zu 100 Millionen derartiger Komponenten rechnen, die in die „Systemautomatisierung einbezogen werden müssen“. Die vielen kleinen Produzenten in eine neues Stromnetz zu integrieren, erfordere voraussichtlich „technische und vor allem organisatorische Ansätze, die wir heute eher aus dem Mobilfunk kennen“.

Hinzu kommt, dass in Zukunft auch die Verbraucher weit stärker in den Stromverbrauch einbezogen werden müssen als bisher. So muss es technisch möglich werden, genau dann verstärkt Strom zu verbrauchen, wenn er – etwa an einem sonnigen Nachmittag – reichlich zur Verfügung steht. Dann sollten möglichst viele Kälteaggregate, Waschmaschinen und Wärmepumpen in Betrieb sein. Umgekehrt muss der Energieversorger die Möglichkeit haben, immer dann die Stromzufuhr zu drosseln, wenn viel Strom gebraucht wird. Das ist möglich, wenn etwa bei einem Verbraucher die Wärmepumpe über ein oder zwei Stunden ausgeschaltet bleibt. Auch für den Kunden muss sich dieser Handel lohnen, etwa durch einen günstigen Stromtarif für seine Wärmepumpe.

Stromübertragung muss intelligenter werden

Um all dies technisch zu ermöglichen, muss das Stromübertragungsnetz weitaus intelligenter werden als dies bisher der Fall ist. Es muss Informationen über Angebot und Bedarf verrechnen und die Lieferungen automatisch anpassen können. Ansatzweise funktioniert das in Pilotprojekten schon heute.

Über ein solches „Smart Grid“ (intelligentes Netz) diskutieren nun die Elektrotechniker in Stuttgart. Dabei geht es auch um neue Geschäftsmodelle, die mit dem „Internet der Energie“ in Zukunft möglich werden könnten. „Beim Smart Grid werden viele mögliche Funktionen hinzukommen, die aber in ihrer breiten Vielfalt derzeit noch gar nicht absehbar sind“, sagt Wulf. Mobilfunk und Smartphone lassen grüßen.