Im norwegischen United World College lernen Jugendliche aus aller Herren Länder für ein Internationales Abitur. Die Stadt Freiburg wird diesem Vorbild nun mit Hilfe der Robert-Bosch-Stiftung folgen.

Baden-Württemberg: Heinz Siebold (sie)

Still ruht der Fjord, nur an wenigen Stellen kräuselt sich die Oberfläche. Im dunklen Wasser spiegeln sich die gelb und rot gestrichenen Holzhäuser, auf den Uferwegen flanieren junge Menschen. Von der Terrasse des Hauses schaut man auf Berge und Wälder. Es ist zehn Uhr abends und taghell, die Sonne wird erst kurz vor Mitternacht untergehen. So ist das im Sommer in Mittelnorwegen.

 

Die wunderschöne Gegend um das Dorf Flekke, 500 Flugkilometer nordwestlich von Oslo, sieht nicht nach entbehrungsreichen Anstrengungen aus, sondern nach erholsamem Urlaub. „Arbeit? Die Arbeit konzentriert sich auf die letzten zwei Wochen, der ganze Rest ist mehr so eine Art verlängertes Landschulheim.“ Alistair Robertson scherzt. Wenn er den verdutzten Blick seines Gegenübers genossen hat, verzieht sich sein schmaler Mund zu einem feinen Lächeln. Natürlich weiß der 57-jährige Südafrikaner, Biologe und Vizerektor des United World Colleges (UWC) in Norwegen, genau, dass seine rund 200 Schülerinnen und Schüler – man nennt sie hier Students – zwei Jahre lang ordentlich arbeiten müssen, um am Ende die Prüfungen für das International Baccalauréat zu schaffen, ein anerkanntes internationales Abitur.

Am Morgen kreisen Möwen über dem Fjord, die Atlantikküste liegt nur wenige Kilometer entfernt. Es ist Prüfungstag, da flattern zuweilen auch die Nerven. „Selbst wenn mein Vater Chinese wäre, könnte ich nicht besser Chinesisch“, schreit eine Schülerin so laut, dass die ganze Mensa zu wackeln scheint. Unerwartet haben sie Selbstzweifel gepackt. Im Nu ist sie von tröstenden Mitschülerinnen umringt.

Richard Lamont empfängt den Besucher in seinem Rektorenzimmer. „Please, just call me Larry“, bittet er. Alle dürfen ihn Larry nennen. Der 41-jährige Sprachlehrer ist ein Brite mit einer südafrikanischen Mutter. Er kann nette Anekdoten wie diese erzählen: „Sie sind ein viel zu junger Rektor“, habe ihm die norwegische Königin Sonja vor zwei Jahren zugeraunt, als er sich bei ihr vorstellt habe. Um ihm dann zuzuzwinkern und majestätisch anzulächeln.

Königlicher Besuch

Im April dieses Jahres, als Königin Sonja die Internatsschule am Flekkefjord offiziell besuchte, empfing der Schulleiter sie als Schirmherrin des UWC und Vizepräsidentin des norwegischen Roten Kreuzes. Beide Institutionen arbeiten am Flekkefjord eng zusammen. Das Gelände gehört dem Roten Kreuz, neben den Schulgebäuden steht dessen Rehazentrum, in dem sich UWC-Schülerinnen und Schüler um Patienten kümmern. Das gehört zum Unterricht, in dem nicht nur Inhalte vermittelt werden, sondern auch Haltungen: anderen helfen, Verantwortung übernehmen.

Jedes Jahr kommt eine neue Hundertschaft Students aus aller Welt an den Fjord: ein Drittel aus skandinavischen Ländern, ein Viertel aus Asien, je elf Prozent kommen aus Mittel- und Osteuropa und Lateinamerika, je zehn Prozent aus Westeuropa und Afrika sowie vier Prozent aus Nordamerika. „Viele stammen aus Kriegs- und Krisenregionen, haben Schlimmes erlebt“, erzählt Larry. „Wir haben eine große Verantwortung, wir sind ihre Ersatzeltern.“

Lehrer am UWC zu sein ist nicht nur ein Job, die Arbeitszeit geht fließend in die Freizeit über. Manche sind als Mentor für ein Schülerhaus zuständig. Jeweils fünf Jungs und fünf Mädchen aus verschiedenen Ländern wohnen in einem Zimmer. Komfortabel ist es nicht, doch die jungen Leute kommen mit den Stockbetten zurecht. Die Regeln des Zusammenlebens legen sie selber fest. Toleranz kann und muss auch so eingeübt werden. Einmal in 24 Stunden muss der Mentor alle Schüler im Haus gesehen haben, dafür gibt es eine „Connect Time“ bei Tee und Keksen. Im Übrigen findet das tägliche Leben weitgehend außerhalb der Zimmer statt: Die Klassen- und Arbeitsräume sind bis 24 Uhr geöffnet – und frequentiert. Es sitzen immer irgendwo Grüppchen zusammen und gucken in Notebooks oder diskutieren.

Von Swasiland an den Fjord

„Für die Schüler ist das alles hier eine große Herausforderung“, sagt die Kunstlehrerin Reidun Bergstrøm. Sie ist Norwegerin, ihr Mann leitet ein internationales Kunstzentrum in der Nähe. Das Idyll am norwegischen Fjord, sagt sie, erscheine perfekt, doch da, wo ihre Schülerinnen und Schüler herkommen, sehe es zuweilen ganz anders aus. „Unsere Students sollen ihre eigene kulturelle Identität erforschen, aber manche schämen sich dafür“, berichtet Reidun Bergstrøm.

Viele Schüler irritiert mächtig, wie die Pädagogen hier mit ihnen umgehen. Zito Mlbowa schafft es beispielsweise nicht, seine Lehrer zu duzen. „Ich kann das nicht ablegen“, sagt der 21-Jährige und lächelt verlegen. „Ein Lehrer ist bei uns eine Respektsperson.“ Und so bleibt Zito beim ehrerbietigen „Sir“ oder „Madam“.

Zitos Weg aus dem Königreich Swasiland im südlichen Afrika nach Norwegen war steinig. Die Grundschule wiederholte er freiwillig, um sein Stottern zu überwinden. Seine Mutter verdiente als Friseurin zu wenig, um das Geld für eine weiterführende Schule zu bezahlen. Sie hat noch zwei weitere Kinder, keines kennt seinen jeweiligen Vater. Um das Schulgeld zu erwirtschaften, eröffnete die Mutter einen Schnellimbiss. Zito half, verlor aber über der Erwerbsarbeit seinen Bildungshunger nicht. Als er endlich wieder den Unterricht besuchen durfte, reichte es nicht zu einer Schuluniform. In seiner Straßenkleidung wurde Zito von den Söhnen der Besserverdienenden nicht akzeptiert, er wurde verspottet und verprügelt. Noch einmal wechselte seine Mutter den Job, um mehr Geld zu verdienen. Der Sohn dankte es ihr mit Leistung, er wurde in den Fächern Design und Technik einer der besten Schüler. Und er hatte einen Lehrer, der das UWC-College Waterford in Swasiland kannte und ihn zur Bewerbung animierte.

Auch Bachazile Sikhondze kommt aus Swasiland, die 20-Jährige hatte es etwas einfacher als Zito, denn schon ihre Tante war vor fünf Jahren Schülerin auf dem norwegischen UWC-College. Bachazile, Tochter eines Getränkehändlers, war nicht nur durch gute schulische Leistungen aufgefallen, sondern zudem durch eine Kampagne für mehr Sauberkeit in ihrem Dorf und ihre Nachhilfestunden für andere Jugendliche. Jetzt muss sie sich selber helfen lassen. „Viele kommen mit ganz anderen Voraussetzungen hierher. Ich hatte den Eindruck, die beherrschen das Geforderte schon alle.“ Doch die gegenseitige Unterstützung funktioniert, es gibt sie spontan auf Schülerebene, aber auch organisiert durch sogenannte Peer-Tutoren. So verliert keiner den Anschluss, auch nicht Bachazile. „Es ist viel Arbeit, aber es geht“, sagt sie.

Armut in der Heimat

Bachazile ist glücklich inmitten der norwegischen Natur und mit den vielen anderen Gleichaltrigen. Und sie tut sich leichter als Zito mit den Umarmungen, die auf dem Campus an der Tagesordnung sind. Den Besuch der norwegischen Königin im April werden die beiden Students aus Swasiland nie vergessen: Eine Monarchin, die sich mit ihnen an einen Tisch setzt, mit der man reden, der man die Hand geben kann – das haben sie bisher nicht gekannt. In dem bitterarmen Land im Süden Afrikas, dessen Bruttoinlandsprodukt fast zur Hälfte aus der Produktion von Coca-Cola resultiert, regiert König Mswati III. mit seiner Familie im Stil eines absoluten Herrschers. Der mindestens 15-fache Ehemann toleriert ein United World College in Kamhlaba, das noch unter seinem Vater König Sobhuza II. im Jahr 1981 eingeweiht wurde.

Im großen Nachbarstaat Südafrika herrschte damals noch das System der Rassentrennung, in Swasiland durften hingegen schwarze und weiße Schüler auf dem College gemeinsam unterrichtet werden. Nelson Mandela schickte etliche seiner Kinder und Enkel nach Kambhala, der große Freiheitskämpfer und Staatsmann wurde nach dem Rückzug aus der Politik 1995 Ehrenpräsident aller UWCs. Nach seinem Tod im Dezember des vergangenen Jahres wurde im UWC eine Äußerung Mandelas hervorgehoben: „Das, was wir aus dem, was wir haben, machen, nicht das, was uns mitgegeben ist, unterscheidet einen Menschen von einem anderen.“

Der Leitspruch passt zur Grundausrichtung des Colleges. Wer sich dort bewirbt, hat sich bereits auf irgendeine Art und Weise hervorgetan. Nicht nur durch gute Noten, sondern auch durch ein Engagement innerhalb oder außerhalb der Schule. Sei es als Schülersprecher, Aktivist für Umweltschutz oder Menschenrechte. Und er oder sie musste ausfindig machen, dass es überhaupt ein UWC gibt und wie und wo man sich dafür bewirbt.

Das ist in Deutschland oder Norwegen leichter als in Nigeria. Der 17-jährige Daniel Akinbote kommt aus dem westafrikanischen Land und hat, wie er sagt, „nur zufällig vom UWC erfahren“. Edwin Uriel Gonzalez, 25, aus Nicaragua hätte in seiner Heimat kaum eine Chance gehabt, Abitur zu machen. Eine Landmine aus dem weit zurückliegenden Bürgerkrieg riss ihm vor acht Jahren beide Unterarme ab. Sein Wille, studieren zu wollen, blieb ungebrochen.

Der Herr über die Stipendien

Der Mann, der die begehrten Studienplätze und Stipendien an Universitäten und Colleges vermittelt, sitzt in einem Raum, der wie ein Asta-Büro kurz nach 1968 aussieht. „Senior University Counseller“ Mark Chalkley, 45, pflegt den Kontakt mit großzügig ausgestatteten Stiftungen, die wertvolle Stipendien vergeben. „Da geht es um Summen von bis zu 75 000 Dollar im Jahr“, sagt er und streicht sein langes Haar zurück. Im Herbst werden sie wieder anreisen, 30 bis 40 Vertreter von Universitäten aus aller Welt und über das gesamte Wochenende im 20-Minuten-Takt Schülerinnen und Schüler befragen und testen.

Manche Students haben ihr Ziel bereits fest im Visier. „Ich werde an der Universität London Philosophie studieren“, verkündet die 18-jährige Sophie Schwechheimer aus dem badischen Oberhausen-Rheinhausen selbstbewusst. „Ich bin an der New-York-Universität in Abu Dhabi angemeldet“, erzählt die 17-jährige Berlinerin Zoë Harrington stolz. Warum machen sie nicht einfach zu Hause das Abitur? „Ich wollte noch was anderes sehen“, antwortet Sophie. Einfach die letzten drei Jahre Oberstufe absitzen, das wäre ihr zu langweilig gewesen. Zoë erzählt, sie habe schon mit zwölf Jahren auf ein Internat wollen – nicht, weil sie Stress mit den Eltern gehabt hätte, sie habe sich das einfach spannend vorgestellt. Die beiden jungen Frauen stellen, theoretisch betrachtet, das deutsche Kontingent in dem norwegischen College.

Praktisch spielt die Herkunft keine Rolle. Die gemeinsame Sprache ist Englisch, das gemeinsame Gefühl ist eine jugendliche Neugier auf andere Menschen und Länder. So wollte es der Schulgründer Kurt Hahn. Der Reformpädagoge – 1886 geboren, Vater der Erlebnispädagogik, Gründer der Internate von Salem am Bodensee und Birklehof im Schwarzwald – hatte nach zwei selbst erlebten Weltkriegen die Idee, Söhne und Töchter der Oberschichten aller Nationen gemeinsam zu unterrichten und damit einen Beitrag zu Frieden und Völkerverständigung zu leisten. Die erste Einrichtung dieser Art, das Atlantic College in Aberdyfi in Wales, wurde 1962 eröffnet.

Weg vom Elite-Image

Aus der ursprünglich durchaus elitären Phase ist das UWC längst heraus. „Wir betreiben keine Elitebildung“, sagt Laurence Nodder. „Wir wollen einen zusätzlichen Zugang zur Bildung schaffen, für Schülerinnen und Schüler aller Milieus, Rassen und Religionen.“ Der 55-Jährige, geboren in Kapstadt, verließ 1982 als weißer Gegner der Apartheid seine Heimat Südafrika und wurde Lehrer am UWC Waterford in Swasiland. Dort lernte er den damaligen Rektor Michael Stern kennen, dem er als Schulleiter folgte. „Stern hat Kurt Hahns Lehre weiterentwickelt“, erklärt Nodder. „Ihn beschäftigte nicht nur die nationale, sondern auch die soziale Trennung.“ Nodder glaubt, „die Welt ein Ort sein kann, um Leute zusammenzubringen“. Ja, als „Weltverbesserer“ will er sich gerne bezeichnen lassen: „Jeder kann das sein.“ Nun hat Nodder eine neue Aufgabe: Er ist Rektor des ersten deutschen UWC-College, das am 23. September in Freiburg offiziell eröffnet wird.

Inmitten der Vorbereitungen ist Nodder nach Norwegen geflogen, um am Flekkefjord mit dem Kollegen Richard „Larry“ Lamond noch ein Details zu dem Projekt zu besprechen. Zum Beispiel, wie man mit den ganz normalen Versuchungen umgeht, die junge Menschen in einer Großstadt ausgesetzt sind. Am norwegischen Fjord liegt das UWC weitab von Rummel und Discos, in Freiburg wird das anders sein: Da lockt eine pulsierende Kneipen- und Partyszene. „Das wird ein große Herausforderung“, sagt Laurence Nodder.

Im Haus auf dem Felsen über dem Fjord wird beim „Director’s Dinner“ ein ausgezeichneten Pinot Noir serviert. Dürfen die Students auch Alkohol trinken? „Normalerweise nicht“, antwortet Richard „Larry“ Lamont. Bei Schulfesten darf es schon mal ein Bier sein – die astronomischen norwegischen Preise regulieren den Konsum aber ohnehin von selbst. Auch Rauchen ist auf dem Schulgelände nicht erlaubt. Händchenhalten mit Freund oder Freundin schon. Die Liebesbeziehungen, die zwischen jungen Menschen leicht entflammen, werden geduldet. Was ist, wenn es über Küssen hinausgeht? Liebesnester sind nicht ausgewiesen. Es könnte so laufen, wie der Biologielehrer Robertson vermutet: Die Natur findet immer eine Lösung.