Sie tauchen inzwischen überall auf: die Internet-Vorleser, die in der Branche gerne auch als „Twitter-Tussis“ bezeichnet werden. Sie halten im Fernsehen den Kontakt zu den sozialen Netzwerken.

Digital Desk: Jan Georg Plavec (jgp)

Stuttgart - Von Twitter dürfte inzwischen jeder gehört haben. Der Kurznachrichtendienst ist ein Forum für Debatten aller Art. Deshalb ist Twitter bei Journalisten so beliebt: als offener Internetkanal, der Reaktionen auf aktuelle Ereignisse versammelt. Auch Politiker, Promis und Sportler nutzen Twitter. Barack Obamas Tweet mit „Four more years“ nach der gewonnenen Präsidentschaftswahl schaffte es sogar in die Abendnachrichten.

 

Fernsehen und Radio versuchen, das Social Web auch aktiv zu integrieren – als Rückkanal. Damit sollen die audiovisuellen Medien „interaktiv“ werden im Sinne einer umfassenden Beteiligung des Publikums. Personifiziert wird dieses Bemühen von den sogenannten Internet-Vorlesern, wie man sie 2012 oft auf dem Bildschirm gesehen hat: Jeannine Michaelsen twitterte im ZDF mit Oliver Kahn und las Tweets zur Fußball-EM vor, Caroline Danz trug in der ARD bei „Gottschalk live“ Meinungen aus dem Netz vor, und Antje Lorentz und Sonja Schünemann verfolgen für N24 und das „ZDF-Morgenmagazin“ Meinungen zur Nachrichtenlage.

Oft haben die Internet-Vorleser ein Tablet in der Hand, lassen Screenshots und Tweets auf dem großen Bildschirm einblenden und berichten in einem ganz eigenen Tonfall, „was das Netz dazu sagt“. Sie tragen Fragen des Publikums vor, die manchmal beantwortet werden, manchmal nicht. Außerdem lesen sie Kommentare vor oder zeigen witzige, im Netz gepostete Bilder. Die Internet-Vorleser sind gewissermaßen das Zuschauertelefon 2.0, bei dem das Publikum zu Wort kommt, als auch eine Art digitaler Straßenumfrage. An den „Twitter-Block“ in Sendungen sind Fernsehzuschauer inzwischen gewöhnt. Das heißt aber nicht, dass alle diese InternetVorleser auch gut finden.

Es gibt auch männliche „Twitter-Tussis“

Die bisher schärfste Kritik trug im November Stefan Winterbauer für den Branchendienst Meedia vor. In einem Internetartikel schrieb er vom „Trend-Berufsbild Twitter-Tussi“ und erntete für diesen Begriff im Netz scharfe Kritik. Dieser Sexismus-Vorwurf war zu erwarten, schließlich sind die Internet-Vorleser meist nur Hilfsarbeiter und überwiegend weiblich, auch wenn es – zumindest im Nebenberuf – auch männliche „Twitter-Tussis“ gibt, etwa Moritz Wedel (n-tv), Frederic Huwendiek (ZDF) oder Andreas Cichowicz, der sich für den NDR zur US-Wahl in Videochats tummelte. Einige Internetvorleser antworteten auf den Beitrag, so etwa Titus Gast vom SWR: Den weniger netzaffinen Zuschauern und Zuhörern könnte es scheinen, die Twitter-Welt sei „eine virtuelle Welt, etwas, das vom richtigen Leben irgendwie getrennt ist“, schrieb er. Internet-Vorleser müssten „erklären, dass es anders ist. So gesehen, haben wir Twitter-Tussis eine wichtige Bildungsaufgabe.“

Nach einer Abschaffung dieser Berufsgruppe sieht es also nicht aus. Die InternetVorleser sind die beliebteste Antwort der Fernseh- und Radiosender auf das Social Web – als personifiziertes Internet, als Feedback-Kanal für die laufende Diskussionssendung. Schneller als via Twitter und Facebook kann man nicht die Meinung der Zuschauer einholen. Deren Kommentare in die Sendung einzubinden kann sich lohnen. Es entzünden sich daran bisweilen vielschichtige Diskussionen zum Auftreten der Studiogäste oder darüber, welche Themen der Moderator ansprechen sollte. Noch aber geschieht diese Einflussnahme eher selten. Noch wird aus dem Social Web eher nur schlicht berichtet, sei’s am ZDF-Fußballstrand auf Usedom, sei’s in Nachrichtensendungen und Talkshows, die Netzkommentare zu den Topmeldungen des Tages zitieren. Dafür gibt’s meist ein kleines Zeitfenster, in dem stets junge, mit reichlich technischem Gerät ausgestattete Online-Journalisten tätig sind.

Daher nimmt es nicht wunder, dass die Formulierung auftauchte, da seien Leute zu sehen, die „irgendwas mit Medien“ machen wollen, völlig ungeachtet jeglicher Inhalte. Und dass Jeannine Michaelsen bei ihrer EM-Twitterei gemeinsam mit dem tapsigen Oliver Kahn auf einen falschen Harald Schmidt reinfiel, mag solche Vorurteile noch verstärken. Und doch: bessere Konzepte als das der „Twitter-Tussi“ sind derzeit nicht auf dem Markt. Den besten Kommentar zum Thema schrieb Nick Bilton von der „New York Times“ anlässlich der Berichterstattung zur US-Präsidentschaftswahl im vergangenen Jahr: „2008 haben wir getwittert, was sie im Fernsehen machen. Vier Jahre später redet das Fernsehen davon, was sie auf Twitter machen.“