Was digital gespeichert ist, bleibt erhalten. Der Informatiker Norbert Gronau macht sich Gedanken, ob das sinnvoll ist.

Stuttgart -

 
Der Potsdamer Wirtschaftsinformatiker Norbert Gronau will in einem Schwerpunktprogramm der Deutschen Forschungsgemeinschaft Computern und Unternehmen das Vergessen lehren. Es sei der einzige Weg, um nicht in der Informationsflut zu ertrinken.
Herr Gronau, Sie wollen Computern und Organisationen das Vergessen beibringen. Wozu ist das gut?
Wir haben die letzten 40 Jahre versucht, den Menschen durch maschinelle Informationsarbeit zu entlasten und alles gespeichert. Jetzt haben wir mehr Daten als jemals zuvor: Durch die ganze datengetriebene Technologie wächst uns die Information über den Kopf.
Wäre es nicht sinnvoller, einen Mechanismus zu entwickeln, der Unwichtiges löscht?
Ich habe den Eindruck, dass eine Technik wie menschliches Vergessen der bessere Weg sein könnte: Unser Gehirn löscht nichts, sondern legt Erinnerungen nach einem gewissen System ab. Was gelöscht ist, ist für immer weg. Aber vielleicht brauchen wir es noch einmal und wissen es jetzt noch nicht. Vergessen erhält Informationen, ohne uns aktuell damit zu belasten. Ich habe beispielsweise in der Schule italienisch gelernt, spreche aber nicht aktiv. Als ich neulich in Italien hungrig einen Bäcker betreten habe, konnte ich auf einmal auf Italienisch Brötchen bestellen: Ich habe den Zugriffspfad wieder gefunden. Wir wollen in interdisziplinären Experimenten herausfinden, wie genau dieser Mechanismus beim Menschen funktioniert und das Systemen beibringen.
Mit Big Data versprechen Un-ternehmen aber doch, genau das tun zu können: Wichtiges von Unwichtigem zu trennen und das entsprechend darzustellen. Oder auch ein Ranking-Algorithmus wie der von Google, der die relevanten Ergebnisse herausfiltert. Wieso reicht das nicht?
Vergessen ist nicht Teil des Google-Algorithmus, er sortiert ja nur nach Kriterien. Google behält jede noch so nutzlose Information in alle Ewigkeit, auch wenn sie schon lange überholt ist. Bestimmte Ergebnisse drängeln sich nach vorne – nämlich die mit der besten Suchmaschinenoptimierung. Aber das sind nicht immer die relevantesten Ergebnisse. Auch bei Big Data fließen zuerst einmal alle Daten mit in die Auswertung, und die relevanten müssen mühsam erkannt werden. Warum kann der Computer nicht so funktionieren wie ein menschliches Gehirn? Der Mensch ist gut darin, sich im Informationsdschungel zurechtzufinden und die richtigen Informationen zum richtigen Zeitpunkt abzurufen. Wir haben sehr gute Sensoren und empfangen ständig viele Daten. Die meisten davon blenden wir komplett aus, sonst würden wir nicht funktionieren.
Was konkret sollten denn Unternehmen heutzutage vergessen?
Ich könnte mir vorstellen, dass Volkswagen jetzt gerade ein sehr großes Interesse daran hat zu vergessen, wie man Abgaswerte auch durch Schummelsoftware erreichen kann. Diese Routine hat sich als falsch herausgestellt.
Wie soll das gehen? Im Unterschied zu Computern kann man Menschen nicht befehlen, Dinge zu vergessen.
Genau das ist die Frage. Man kann alle Hinweise auf diesen Weg löschen, alle Dokumente, alle Unterlagen, alle Versuchsprotokolle. Aber ab wann ist die Routine gelöscht? Genügt es, die beteiligten Mitarbeiter zu entlassen? Deren Vorgesetzte? Das ist jetzt Spekulation, weil unsere Forschung erst am Anfang steht, aber ich habe den Eindruck, dass wir zu neuen Lösungen kommen, wenn wir die Mechanismen des Vergessens auf Systeme und Organisationen übertragen. Maschinen wissen nicht, was wichtig und was unwichtig ist. Zudem ändert sich diese Einschätzung ja auch, wie mein Beispiel mit dem italienischen Bäcker zeigt.
Früher gingen Mitarbeiter mitsamt ihrem Wissen eines Tages in Rente – damit hat sich das Problem des Vergessens teilweise von selbst gelöst. Heute werden möglichst alle Informationen gespeichert, es gilt als wichtig, dieses Wissen zu erhalten. Wo führt das im Alltag zu Problemen?
Unternehmen arbeiten heutzutage trotz einer hohen Regelungsdichte mit brachial einfachen Ablagesystemen. Es wird einfach alles gespeichert. Wie früher im Zettelkasten der Forscher: Was ich da reintue, habe ich auf jeden Fall. Aber jetzt werden die Probleme deutlich: Wenn beispielsweise ein Mitarbeiter eine neue Software schaffen will und sucht, wie das geht, schaut er im System nach und findet dort vielleicht zehn Vorschläge. Seine Kollegen ergänzen noch einmal zwei oder drei. Woher soll er wissen, welcher Vorschlag zielführend ist, welche Praxis aktuell? Es wäre doch super, wenn das System die unwichtigen Vorschläge vergisst, so wie unser Gehirn.
Gibt es schon Erkenntnisse darüber, wie unser Gehirn das macht und ob sich das in Regeln formulieren lässt, die dann auch für Computer sinnvoll sind?
Der Mensch wendet einen pragmatischen Algorithmus an, um nicht von zu vielen Informationen überfordert zu werden. Den wollen wir entschlüsseln. Ich bin zuversichtlich, dass dabei übertragbare Regeln herauskommen. Für die nächste Generation des Wissensmanagements ist der Mensch das Vorbild für den Computer.
Wenn wir selbst es jetzt schon gut können: Wozu brauchen wir einen Computer, der es einfach nur genauso gut kann?
Weil die Menge an Informationen weiter drastisch zunimmt. Wir müssen die Informationsverarbeitung daran anpassen. Der Computer in seiner jetzigen dummen Art kennt nur speichern oder löschen. Und das Gespeicherte belastet uns immer mehr.