Der Sozialgeograf Malte Steinbrink untersucht seit Jahren das Phänomen des Slum-Tourismus.

Wochenend-Magazin: Markus Brauer (mb)

Der Sozialgeograf Malte Steinbrink untersucht seit Jahren das Phänomen des Slum-Tourismus. Im Interview erklärt er, was Urlauber in Armutsviertel treibt, ob die Touren ethisch vertretbar oder purer Voyeurismus sind.

 

Herr Steinbrink, was hat man sich unter Slum-Tourismus genau vorzustellen?
Das sind vor allem geführte Gruppentouren. Die Touristen besichtigen städtische Armutsgebiete und bekommen von den Führern Informationen über die Siedlungen und ihre Bewohner. Der Slum-Tourismus ist zumindest im globalen Süden ein recht neues Phänomen. Es begann etwa Anfang der 1990er Jahre vor allem in Südafrika nach der Freilassung Nelson Mandelas und dem Ende der Apartheid. Es waren zuerst politisch interessierte Reisende, die Soweto, die Township bei Johannesburg, sehen wollten. Ebenfalls Anfang der 1990er Jahre entwickelte sich der Favela-Tourismus in Brasilien – im Nachklang der UN-Klimakonferenz 1992 in Rio. Die Delegierten wollten sich die aus Sicherheitsgründen von Polizei und Militär abgeschirmten Armutsgebiete anschauen. Geführte Touren etablierten sich danach auch als Angebot für Urlauber.

Slums wurden zu einer Attraktion.
Sehr stark sogar. Seit 2000 hat sich der Slum-Tourismus zum Massenphänomen entwickelt. 2006 haben allein in Kapstadt rund 300000 Touristen die Townships besucht, darunter Zehntausende Deutsche. Etwa ein Viertel aller Kapstadt-Touristen besuchen eine Township. In Brasilien liegt der Schwerpunkt in Rio de Janeiro mit jährlich 50000 Favela-Touristen. Derzeit boomt der Slum-Tourismus auch in Mumbai, Indien. Das steht natürlich stark im Zusammenhang mit dem Oscar-prämierten Film "Slumdog Millionär".

Ist das Phänomen auf diese wenigen Orte beschränkt?
Slum-Tourismus globalisiert sich und expandiert derzeit enorm. Es gibt das Phänomen mittlerweile an sehr vielen Orten – in Manila, Jakarta, Nairobi, Mazatlan, Bangkok. Vor allem in solchen Ländern, die ein beliebtes Ziel von Ferntouristen sind und neben den Slums konventionelle touristische Attraktionen und die entsprechende Infrastruktur anbieten können. Keiner kommt auf die Idee, eine Slum-Tour in Kinshasa anzubieten – obwohl es dort genügend Slums zu bestaunen gäbe, es besteht weder Angebot noch Nachfrage.

Wie ist Slum-Tourismus entstanden?
Die Anfänge liegen im viktorianischen London. Mitte des 19. Jahrhunderts zog es Angehörige der britischen Oberklasse oft unter dem Deckmantel der Wohlfahrt in die Armenviertel des East End. Dort ist auch der Begriff des Slums und Slumming entstanden. Sobald es Slums gab, gab es auch die Neugierde.

Was sind die heutigen Motive?
Wenn man Touristen vor einer Tour fragt, was sie mit einem Slum assoziieren, dann kommen meist nur sehr negative Begriffe wie Armut, Kriminalität, Schmutz, Krankheit, Elend. So betrachtet erscheint eine Besichtigungstour wie eine Art soziales Bungee-Jumping. Touristen, die von der Lust an der Angst getrieben sind, versuchen die soziale Fallhöhe im globalen Maßstab auszuloten – ohne Gefahr zu laufen, tatsächlich hart zu landen. Wenn man die Touristen nach der Tour nach ihren Eindrücken fragt, entsteht ein anderes Bild: Meist sind sie ganz beseelt von ihren Erlebnissen. Der Slum ist dann ein Ort zwischenmenschlicher Wärme und des Miteinanders, an dem die Menschen ihre Kultur leben.

Geht es nur um den Kontakt mit Armen?
Wenn man diese Form des Städtetourismus tiefer betrachtet, stellt man fest, dass es nicht primär um die Armut an sich geht. Die Armut ist vielmehr ein Mittel, ein Garant für das Erleben von etwas anderem: Die Touristen wollen, um sich zu erholen, Distanz zu ihrem Alltag herstellen, indem sie Differenz erfahren. Bei den Touristen gibt es zunehmend die Befürchtung, dass das, was sie im Urlaub zu sehen bekommen, nur für die Urlauber inszeniert ist. Die Armut im Slum garantiert gewissermaßen die Echtheit. Überspitzt gesagt: Ein hawaiianisches Hula-Mädchen mit Blümchen im Haar könnte ja Show auf der touristischen Bühne sein. Aber die Pestbeule eines indischen Slum-Bewohners, die ist echt indisch.

Die Touristen suchen Authentizität.
Extreme Armut verspricht die Erfahrung echter kultureller Differenz – jenseits touristischer Inszenierung. Die Suche nach Authentizität ist ein Hauptmotiv von Touristen. Viele Touristen fahren in den Slum, um das wahre Indien, Südafrika oder Brasilien zu entdecken. Interessant ist auch, mit welchen Vorstellungen sie dann zurückkommen.

Das hört sich nach Voyeurismus an.
Das ist der häufigste Vorwurf der Gegner des Slum-Tourismus. Es gibt aber auch andere Stimmen, die sagen: Slum-Tourismus ist eine Chance für die Entwicklung dieser Stadtgebiete, eine Einkommensquelle. Andere sehen hier eine Chance zur interkulturellen Verständigung oder der Aufklärung. Aber es gibt in der Tat außerordentlich starke moralische Bedenken. Die Skrupel prägen diese Tourismusform sehr stark: Die Anbieter versuchen, die Bedenken zu zerstreuen. Dass passiert dadurch, dass Touristen vermittelt wird, sie seien nicht Voyeure, sondern Kulturinteressierte, Bildungsreisende, Entwicklungshelfer, die die Lebensweise der Menschen hautnah miterleben und durch Spenden helfen. Das prägt stark die Weise, wie die Slums und ihre Bewohner gezeigt werden.

Wie profitieren die Slum-Bewohner?
Jeder Touranbieter sagt, ein Teil der Profite fließe zurück in den Slum für den Bau einer Schule oder Ähnlichem. Das gehört oft zur Strategie, um moralische Bedenken seitens der Touristen zu zerstreuen. Auch ein Einkauf auf Märkten ist enthalten. Man kann spenden. Davon profitieren aber nur wenige.

Kann man mit Slum-Tourismus die Armut in diesen Ländern bekämpfen?
Nein. Wenn die Touren wirklich gut gemacht würden, unter maßgeblicher Einbeziehung der Slum-Bewohner selbst, die frei entscheiden könnten, was und wie sie sich präsentieren wollen, dann könnte es vielleicht zu einem besseren Verständnis aufseiten der Touristen kommen. Vielleicht. Aber armutsreduzierend wirkt diese Form keinesfalls im größeren Maßstab. Einzelne profitieren.

Malte Steinbrink (40), ist Sozialgeograf am Institut für Geografie und dem Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien der Uni Osnabrück und einer der wenigen deutschen Experten für Slum-Tourismus. Derzeit erforscht er im Gemeinschaftsprojekt mit der Uni Potsdam Slumming in Brasilien, Indien, Südafrika.