Der Architekturhistoriker Wolfgang Voigt plädiert für die Erhaltund des Kopfbahnhofs - und eine Einbindung in Stuttgart 21.

Der Stuttgarter Bahnhof wird den Umbau zum Tiefbahnhof nur als Fragment überleben. Wolfgang Voigt, stellvertretender Direktor des Deutschen Architekturmuseums in Frankfurt, fordert im Gespräch mit Amber Sayah einen denkmalverträglichen Umgang mit diesem "Meisterwerk der Moderne".

Stuttgart ist im Begriff, seinen denkmalgeschützten Hauptbahnhof radikal zu beschneiden. Für das Projekt Stuttgart 21 sollen die Seitenflügel fallen. Sind diese Trakte tatsächlich verzichtbare Bestandteile des Bauwerks?


Es stand nie zur Debatte, ob die Seitenflügel ein wichtiger Bestandteil des Ensembles sind oder nicht. Es hieß einfach, dass sie nicht zu erhalten seien, weil der unterirdische Bahnhof nach dem Entwurf von Christoph Ingenhoven sonst nicht gebaut werden könne. Heute gibt es jedoch Stimmen, die genau das anzweifeln. Im Wettbewerb gab es übrigens andere Entwürfe, die das besser hingekriegt haben - nämlich den unterirdischen Bahnhof mit einer vernünftigen Nutzung des bestehenden Bahnhofs zu verbinden, und zwar so, dass dieser in seiner Funktion und Wirkung noch gesteigert wird. Das scheint also auch mit Stuttgart 21 möglich zu sein.

Das Preisgericht hat sich aber nun mal für den Ingenhoven-Entwurf entschieden. Vor kurzem machte der Architekt Arno Lederer in der StZ jedoch den Vorschlag, den Ingenhoven-Entwurf so überarbeiten zu lassen, dass ein denkmalgerechter Umgang mit dem Bahnhof möglich und dennoch etwas Neues implantiert wird. Trotzdem nochmals meine Frage: sind die Seitenflügel wichtig für das Ensemble?


Man muss im Stuttgarter Talkessel nur mal auf der Nordseite den Hang hochgehen: da erblicken Sie dann das große Portal, das in die Querhalle führt, und zu beiden Seiten die beiden viergeschossigen Trakte. Der linke Flügel soll abgerissen werden. Wenn Sie diese symmetrische Komposition sehen, werden Sie mir zustimmen, dass ein Abriss ein gewalttätiger Akt wäre. Was dann noch übrig bleibt . . . das geht nicht. Wenn man überhaupt davon ausgeht, dass der Bahnhof ein qualitätvoller Bau ist - ich würde sogar sagen, er ist ein Meisterwerk - geht das einfach nicht. Gleiches gilt für den längeren Trakt auf der Südostseite. Stuttgart 21 sieht eine Drehung des Bahnhofs um 180 Grad vor und damit verbunden eine Öffnung zum Schlossgarten. Ich halte diese Öffnung ganz grundsätzlich für eine überflüssige und falsche Idee. Stuttgart 21 würde wunderbar auch ohne sie funktionieren.

Sie wissen, dass darüber in Stuttgart seit langem gestritten wird. Auch über den Wert oder Unwert des Bahnhofs gehen die Meinungen nach wie vor auseinander. Wenn man jetzt daran geht, Teile davon niederzulegen, dann sollten wir uns im Klaren sein, was wir da tun.


Es sollen ja nicht nur Teile abgeschnitten werden. Auch innen werden die wichtigsten Räume ihrer Funktion beraubt. Man hat den Eindruck, dass höchstens die Eingangshalle zur Königstraße ihre Funktion behält, dass aber die Freitreppe verschwindet und die Querhalle, die der wichtigste Raum ist, gefüllt wird mit etwas, was der Bahn-Tochter, die für die Immobilien zuständig ist, Geld bringt. Unter diesen Bedingungen hat es keinen Sinn, den Bahnhof überhaupt zu erhalten. Das ist dann nur noch Fassadismus. Den sollte sich Stuttgart verbitten.

Sie sprechen von einem Meisterwerk. Was genau ist denn an dieser Bahnhofsarchitektur so meisterlich?


Als Architekturhistoriker sehe ich den Stuttgarter Bahnhof im Kontext anderer Bahnhöfe derselben Zeit. Ich sehe darin den letzten großen Bahnhof in Europa, der die Bezeichnung Kathedrale des Verkehrs noch verdient. Zugleich stellt er eine Krönung dieser Idee dar. Man darf natürlich fragen, ob so viel Pathos wirklich sein muss. Aber vor hundert Jahren war die Eisenbahn eben etwas sehr Bedeutendes. Zugleich war der Bahnhof der repräsentative Ein- und Ausgang für die Stadt. Danach gibt es so etwas nicht mehr, und wo es noch angefangen wird, wie in Mailand zum Beispiel, ist es ein dekorüberladener Bahnhof, ein kitschiges Stück Torte. Als Projekt wurde Mailand erst beschlossen, als Stuttgart schon stand. Stuttgart war im Entwurf um 1913 fertig, die Verkehrskathedralen, die danach noch kommen, sind die Karikatur dieser Idee. Bonatz bringt es zu einer einsamen Höhe. Und übrigens: Atocha in Madrid oder der Gare du Nord in Paris oder St. Pancras in London, das sind alles alte Bahnhöfe, die zugunsten des Hochgeschwindigkeitsverkehrs nicht etwa abgerissen und durch Neubauten ersetzt, sondern intelligent damit verbunden werden. Die Städte brüsten sich geradezu damit. Stuttgart hat das nicht verstanden. Das ist sehr traurig.

Die Stadt hat eine nicht sehr rühmliche Geschichte von Abrissen, gerade auch Denkmäler der Moderne betreffend. Erich Mendelsohns Kaufhaus Schocken, das ebenfalls einem Verkehrsprojekt, nämlich der Verbreiterung der Straße, weichen musste, ist darunter nur das berühmteste Beispiel.


Seit man sich in Stuttgart bequemt hat, den Weißenhof als etwas Eigenes zu akzeptieren, herrscht anscheinend die Idee vor, dass der Weißenhof und dann erst mal nichts mehr das lokale Wahrzeichen der Moderne ist. Das ist ein großer Irrtum. Nach meiner Ansicht macht sich die Moderne hier in der Zwischenkriegszeit am Bahnhof und am Weißenhof fest. Wer den Bahnhof vergisst, ist auf dem Holzweg.

Vielen Leuten missfällt dennoch die steinerne Monumentalität des Bonatzbahnhofs. Könnte der achtlose Umgang mit dem Bauwerk auch daran liegen, dass man der Architektur insgeheim etwas Kryptofaschistisches unterstellt?


Richtig, aber der Bahnhof wurde schon zwei Jahrzehnte vor der NS-Zeit entworfen. Diese Schuld kann man ihm nicht aufbürden. Wenn modern immer heißen muss, dass es flächig und glatt ist, am besten ein weißer Kubus, ist das eine verengte Sicht. Weiß und flächig ist nur so ein Teil der Moderne (deutet mit Daumen und Zeigefinger einen winzigen Abschnitt an). Dieser Bahnhof machte Stuttgart baulich erst zur Großstadt. Vorher war Stuttgart eine beschauliche Residenz, danach ist es, auch als Bild, eine Großstadt. Das leistet dieser Bahnhof auf geradezu perfekte Weise.

Matthias Roser schreibt in seiner Monografie über den Stuttgarter Bahnhof, dass man sich damals bewusst für einen Kopfbahnhof entschied. Nicht nur, weil die schwierige Topografie dies erforderte, sondern weil dadurch der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bedeutung Stuttgarts Ausdruck gegeben werden sollte. Es war eine Statusfrage.


Genau, man hätte ja damals auch schon nach Cannstatt gehen können. Aber nun hat man dieses Statusgebäude und ist dabei, es so zu amputieren, dass man es dann eigentlich auch gleich abreißen könnte, weil es ein sinnloses Gebäude wird.

Nun war der Bahnhof im Krieg stark zerstört und danach wieder aufgebaut worden. In welchem Zustand befindet sich dieses Bauwerk heute, wie stark hat es sich durch den Wiederaufbau verändert?


In den beiden großen Hallen sind nur die Decken neu. Da ersetzen jetzt Betonbinder die einstigen schweren, starken Holzbinder. Die große Querhalle ist zwar nicht in der Kubatur und nicht im Volumen, aber doch im Charakter verändert. Rot angemalt war die früher natürlich auch nicht.

Früher war es eine Backsteinhalle.


Richtig, Backsteine mit einer Holzbalkendecke, aber - und darauf kam es an - ohne Dekor! Bis zum Ersten Weltkrieg sahen Bonatz' Hallenentwürfe neoklassische Pilaster vor. Das Halleninnere wurde während des Ersten Weltkriegs dann immer weiter reduziert, erstens, weil man kein Geld mehr hatte, und zweitens fand man es auch nicht mehr angemessen. Man ahnte, dass eine demokratischere Staatsform kommen könnte, und dann wäre dieser repräsentative Dekorismus passé. Aber immerhin ist der Wiederaufbau ja auch von Bonatz.

Wie steht es mit der städtebaulichen Einbindung des Bahnhofs? Spielen die Seitenflügel dabei eine Rolle?


Die Einstufung als Meisterwerk bezieht sich auch darauf, dass der Bahnhof auf den Ort antwortet. Die Lage im Stuttgarter Kessel bildet ja so eine Art Amphitheater. Was für ein fantastischer Empfang der Reisenden! Daher funktioniert dieser Bahnhof besser als jeder andere als Stadttor. Wie dieser Bahnhof daliegt, das ist so optimal und so richtig für diese stadtlandschaftliche Lage, das kann man nicht besser hinkriegen. Nun kennen wir auch die anderen Wettbewerbsentwürfe, ebenso wie den Entwurf, den Bonatz selbst abgegeben hatte. Auch der war schon sehr spannend, hatte aber noch nicht das Spezifische, was die ausgeführte kubistische Komposition hatte. Und die ist meisterlich - als Komposition und als ein Bauwerk, das sehr subtil an jeder Ecke auf das antwortet, was da ist. Das macht kein anderer vergleichbarer Bahnhof, keine der anderen Kathedralen des Verkehrs. Leipzig zum Beispiel, etwa gleichzeitig entstanden, ist ein sehr imposanter Bahnhof, zweifelsohne, aber das ist eine vollkommen statische, symmetrische Komposition, die in nichts auf die Stadt antwortet. Stuttgart antwortet in allem auf die Stadt.

Sie bereiten am Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt gerade eine große Ausstellung über Paul Bonatz vor, die 2010 stattfindet. Welche Bedeutung hat Paul Bonatz für die deutsche Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts?


Es gibt ein paar wichtige Neuerer in der deutschen Architektur vor 1914. Peter Behrens ganz oben, Poelzig, Gropius - und Bonatz! Sein Pech ist, dass der Krieg kommt und der Bahnhof so lange braucht, bis er fertig ist, und zweitens, dass der Bau nicht in Berlin steht. Dennoch: das ist echte Großstadtarchitektur. Ganz fertig ist der Bahnhof erst 1927, und dann hat man schon den Weißenhof. Es hat sich alles geändert, Deutschland ist Republik, und das Schisma der Architekturmoderne passiert gerade - das ist Bonatz' Tragik. Bonatz ist einer der letzten großen Architekten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland, die nicht ihrem Rang entsprechend gewürdigt worden sind. Wir nutzen mit der Ausstellung die Chance, das nachzuholen.

Ich komme zurück auf den Anfang unseres Gesprächs: Stuttgart ist im Begriff, ein wichtiges Baudenkmal zu zerstören . . .


. . . ein Meisterwerk.

Noch steht es. Was würden Sie Stuttgart raten?


Stuttgart und das ganze Land sind in einem 21.-Jahrhundert-Hype. Das können sie ruhig sein, aber sie sollten sich auch an den Hype vor hundert Jahren erinnern und beides produktiv zusammenbringen. Ich bin der Ansicht, dass man Stuttgart 21 machen kann, aber man soll es mit und nicht gegen den bestehenden Bahnhof machen. Und man sollte Stuttgart 21 dadurch aufwerten, dass man den Bahnhof in der bestmöglichen Weise benutzt. Das geht.