Der Stadt- und Regionalplaner Alfred Ruther-Mehlis von der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen arbeitet an einer Studie über Entwicklungspotenziale. Ein Ziel ist es, den künftigen Bedarf an Gewerbeflächen in Baden-Württemberg einzuschätzen.

Das Land Baden-Württemberg hat die Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen mit einer umfassenden Untersuchung zu Gewerbeflächen beauftragt. Die Studie soll Potenziale aufdecken und Instrumente für die Planung einer nachhaltigen Gewerbeentwicklung liefern. Im Interview geht der Stadt- und Regionalplaner Alfred Ruther-Mehlis von der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen (HfWU) auf die Herausforderungen ein, mit denen sich Planer und Politiker auf allen Ebenen konfrontiert sehen.
Herr Ruther-Mehlis, Sie sollen Gewerbeflächen aus dem Hut zaubern. Wie geht das?
Aus dem Hut zaubern können wir sie nicht. Die Erhebung ist landesweit. Wir befragen alle Regierungspräsidien, Regionalverbände, Landkreise, kreisfreien Städte und Städte über 50 000 Einwohner nach Entwicklungspotenzialen, um eine Übersicht zu gewinnen. Man weiß weder, wie viele Gewerbeflächen es gibt, noch wie groß der Bedarf ist. Es gibt Regionen, etwa im Schwarzwald und im Schwäbischen Wald, in denen fast alle Beteiligten von einem Überangebot an Gewerbeflächen sprechen. Was dort aber fehlt, sind leistungsfähige Standorte, an denen Unternehmen gut wirtschaften oder neue Betriebe angesiedelt werden können. Nicht sinnvoll ist eine Angebotspolitik nach der Art: wir weisen 100 Hektar aus und schauen, was passiert. Das gibt es häufig genug im Land.
Wie sieht es hier im Ballungsraum aus?
Der Nachfragedruck ist natürlich sehr groß. Das heißt aber nicht, dass es keine verfügbaren Flächen gibt. Es kann aber sein, dass diese für bestimmte Branchen nicht geeignet sind, dass also Angebot und Nachfrage nicht zusammenpassen. Oftmals klagen Bürgermeister, Wirtschaftsförderer und Geschäftsführer, es herrsche Flächenknappheit. Aber gleichzeitig wissen viele Gemeinden über Potenziale nicht detailliert Bescheid, weil Erhebungen veraltet sind oder nicht existieren.
Woran liegt das?
Viele Gemeinden sind personell sehr eng aufgestellt. Es gibt Gemeinden mit 6000 Einwohnern und einer Kernverwaltung von weniger als zehn Beschäftigten. Der Ortsbaumeister ist von der Kläranlage bis zur Flächennutzungsplanung für alles zuständig. Er hat gar keine Chance, auf dem Laufenden zu bleiben. Mittlerweile kommt nach und nach eine bessere EDV-Ausstattung in die Gemeinden, die über geografische Informationssysteme die Möglichkeit einer Bestandsaufnahme haben. Es gibt seitens des Landes auch ein Flächenmanagementtool, das den Gemeinden nahezu kostenlos zur Verfügung gestellt wird, um Flächenpotenziale zu erheben.
Kann man den Firmen nicht einfach sagen: Geht dorthin, wo Platz ist?
An einer interkommunalen Herangehensweise arbeiten wir schon seit vielen Jahren in verschiedenen Projekten. Der Gewerbeflächenpool Neckar-Alb, der Stadtentwicklungsverband Ulm/Neu-Ulm oder auch die Gewerbestandortgemeinschaft Schwarzwald-Baar/Heuberg sind Beispiele für derartige Bemühungen. Und im Kreis Böblingen stellt sich eine Reihe von Gemeinden einem Gewerbeflächendialog.
Klingt fortschrittlich
Grenzen sind da, wo Betriebsstätten so weit weg wären, dass Zulieferbeziehungen nicht mehr richtig funktionieren würden oder – noch schlimmer – Arbeitskräfte nicht gut pendeln könnten. Wenn wir Firmen bei geplanten Standortverlagerungen beraten, dann zeigt sich meist, dass die wichtigste Ressource das Personal ist. Wenn ein Betrieb umzieht, sollten möglichst die Arbeitskräfte an ihrem Wohnort bleiben können, damit Schulbesuche von Kindern oder Vereinstätigkeiten nicht tangiert werden. Wir sprechen hier von einem Radius von 15 bis 20 Kilometer. Wenn Firmen diesen Umkreis verlassen, suchen sie oftmals richtig weit. Man kann einer Firma auf den Fildern, die an ihre Standortgrenzen stößt, nicht einfach sagen: Wir haben auf der Alb preisgünstige Flächen. Das funktioniert in fast keinem Fall.
Welche Rolle spielt die Branche bei den Anforderungen an Standorte?
Man muss grob wissen, in welcher Branche ein Unternehmen aktiv ist. Die Differenzierung geht aber nicht so weit, dass es etwa ein Gebiet nur für Druckereibetriebe gäbe.
Logistiker suchen verzweifelt nach Flächen.
Logistik ist ein Spezialthema. Auf der einen Seite klagen viele Gemeinden, sie hätten Anfragen von Logistikfirmen mit hohem Flächenbedarf, die angeblich wenig Arbeitsplätze pro Hektar, dafür aber eine hohe Verkehrsbelastung mit sich brächten. Das stimmt in vielen Fällen. Die Kehrseite der Medaille ist, dass jene Firmen, die die Kommunen gerne haben möchten, Logistik benötigen. Wir hören von Firmen auch, ohne logistische Basis können wir an einem Ort auf Dauer nicht bleiben. Tatsache ist, dass der Einzugsbereich von Logistikern relativ groß ist. Eine Gemeinde, die einen Logistiker aufnimmt, übernimmt eine Dienstleistung für Nachbargemeinden mit. Dafür gibt es bisher keinen Ausgleich, weder finanziell noch in Form von Fördermaßnahmen durch die Region. Nach wie vor wird gesagt: Wir brauchen Logistik, aber bitte nicht bei uns.
Ist der Regionalplan des Verbands Region Stuttgart zu restriktiv?.
Restriktiv würde ich nicht sagen. Er ist stark steuernd zugunsten der grünen Infrastruktur. Aus Befragungen geht klar hervor, dass die Menschen den hohen Freizeit- und Erholungswert sehr schätzen. Die grünen Lungen zubauen, geht nicht. Davon abgesehen gibt es noch Entwicklungsflächen im Außenbereich. Im Regionalplan ist da noch einiges möglich. Die wesentlichen Potenziale aber liegen im Siedlungsbestand. Da gibt es große Reserven, die bisher nicht aktiviert sind. Teilweise sind das Reserven, die Unternehmen für mögliche Erweiterungen reserviert haben. Dann gibt es auch in der Region Stuttgart mit ihren relativ hohen Bodenpreisen sehr viele Flächen, die untergenutzt sind.
Was heißt das?
Wir haben eine ganze Reihe von Gebieten, die nur eingeschossig genutzt werden und in denen Lager großzügig Platz beanspruchen. Häufig liegen auch zwischen zwei Betrieben Flächen einfach da, weil sie derzeit keiner braucht. Zudem gibt es Betriebe, die aufgegeben wurden. Die Grundstücke liegen oft jahrelang brach. Eigentümer kümmern sich schlicht nicht um sie, weil damit teilweise wenig zu erlösen ist.
Dieser Umstand ist wenig bekannt.
Ich rechne damit, dass sich da in den nächsten fünf bis zehn Jahren viel bewegen wird, weil Unternehmer vermehrt darüber klagen werden, dass es dauerhaft Leerstände gibt oder weniger hochwertige Betriebe in Gewerbegebiete sickern und diese an Qualität verlieren. Letztlich leidet darunter die Adresse eines Gebiets, und gute Firmen werden versuchen, Standorte in neuen Gebieten zu finden. Das ist aus meiner Sicht auch ein ganz großes Handlungsfeld für die Stadtsanierung, die sich nach den Innenstädten nun zunehmend auf Gewerbegebiete erstrecken muss. Da kann man riesengroße Flächenpotenziale aktivieren.
Ist das nicht sehr viel schwieriger, als in den Außenbereich zu gehen?
Klar. Denkmalschutz, mögliche Altlasten – das alles spielt eine Rolle. Es gibt auch Brachen, die eine Restnutzung haben. Oft ziehen sich Betriebe schrittweise zurück, und es werden häufig eben nicht zehn Hektar auf einen Schlag frei. Manchmal wird untervermietet, der Insolvenzverwalter sucht kurzfristige Lösungen, oder es werden nur einzelne Teile verkauft. Patentrezepte gibt es nicht. Jede Brache ist ein Unikat und muss einzeln angepackt werden. Das ist zwar kompliziert, aber auch reizvoll. Es lohnt sich, die Betriebe in der Umgebung zu fragen, was sie vorhaben, welchen Bedarf sie mittelfristig sehen. Dann kann man maßgeschneiderte Lösungen finden. Wirtschaftsförderer sollten nicht einfach abwarten, was passiert, sondern gezielt auf Firmen zugehen.
Ihre Studie zielt auch auf qualitative Aspekte ab. Worauf kommt es denn an?
Pauschal kann man das nicht beantworten. Man muss unterscheiden zwischen einigen Basics. Zur „Grundausstattung“ gehören unter anderem eine günstige Verkehrsanbindung und die technische Ausstattung, wie beispielsweise DSL-Anschluss. Wer diese Basics nicht hat, braucht mit einem Gewerbegebiet im Wettbewerb erst gar nicht anzutreten. Dann unterscheidet man zwischen „harten“ und „weichen“ Faktoren, die aber in einem Kontinuum unterzubringen sind. Zu den harten Faktoren gehören das Vorhandensein von Arbeitskräften und die Höhe des Gewerbehebesteuersatzes sowie die Entfernung zu Zulieferern und Abnehmern. Zu den „weicheren“ Faktoren zählen der Wohnungsmarkt für Mitarbeiter und die soziale Infrastruktur, wie Kinderbetreuung, Schulen oder Fortbildungsmöglichkeiten für Mitarbeiter. Dann gibt es ganz weiche Faktoren, wie das Image einer Region, die Landschaft und der Freizeitwert. Es spielen beispielsweise auch Dinge eine Rolle wie Unternehmerfreundlichkeit einer Verwaltung und der Politik.
Gibt es da Unterschiede?
Aber sicher. Es gibt Gemeinden, da geht der Unternehmer aufs Rathaus und wird als Kunde gesehen. Findet sich keine Lösung, dann kümmert man sich auch darum, dass der Unternehmer vielleicht in der Nachbargemeinde gut versorgt wird. In manchen Gemeinden hingegen fühlen sich Unternehmer als bloße Bittsteller, die Flächen beanspruchen. Die Frage ist, wie kümmert man sich um Betriebe, die für das Gesamtgefüge wichtig sind.
Wie wirkt sich denn der Strukturwandel auf den Flächenbedarf aus?
Grundsätzlich geht der Trend von der Landwirtschaft und der Industrie hin zu den Dienstleistungen, vor allem zu den Wissensdienstleistungen, also Beratung, Innovation, Forschung. Aber der tertiäre und quartiäre Sektor brauchen eine Basis im produzierenden Bereich. Wir werden künftig nicht davon leben, indem wir uns gegenseitig beraten und die Haare schneiden. Eine Grundausstattung mit Produktion ist erforderlich. Auch muss die Nähe von Forschung und Entwicklung zur Produktion gegeben sein. Es ist sehr schwer Automobile zu entwickeln in einem Land, in dem keine Automobile gebaut werden. Von daher werden wir auch weiterhin einen zusätzlichen Flächenbedarf haben. Den Flächenbedarf in zehn bis 15 Jahren weiß aber kein Mensch. Von daher fahren wir in den Empfehlungen unserer Studie auch auf Sicht, um Firmen Möglichkeiten zu bieten.
Beispiel Großer Forst. Die Kritiker des geplanten Gewerbegebiets halten das Projekt mit Verweis auf Bestandsreserven im Verbandsgebiet Wirtschaftsraum Nürtingen für unnötig. Stimmen Sie zu?
Wir haben die Reserven nicht untersucht. Daher kann ich auch nicht sagen, die Verbandsgemeinden brauchen den Großen Forst oder nicht.
Sie kneifen.
Nein, ich drücke mich nicht vor einer Antwort. Ich glaube, dass eine Stadt wie Nürtingen gemeinsam mit den Nachbarkommunen darüber nachdenken muss, welche Gewerbeflächenpotenziale sie vorhalten möchte, um zukunftsfähig zu bleiben. Was aber auch heißt, dass diese Flächen nicht verschleudert werden dürfen. Denn ein Verkauf von Gewerbeflächen ist erst einmal gar keine Erfolgsmeldung. Die Erfolgsmeldung ist aus planerischer Sicht, wenn Arbeitsplätze in einer Subregion erhalten oder geschaffen werden können. Dann geht es um die Frage, mit welchen Flächen kann ich am besten Arbeitsplätze in verschiedenen Branchen halten, die auch der unterschiedlichen Qualifikation von Arbeitnehmern gerecht werden. Wir sind nicht alle Ingenieure und IT-Spezialisten. Der Große Forst oder andere neue Gebiete haben einen Bedarfsnachweis zu erbringen. Bevor es in den Außenbereich geht, muss geprüft werden, was im Bestand noch möglich ist.
Können Sie die Bedenken nachvollziehen?
Beim Zweckverband Wirtschaftsraum Nürtingen ist es prinzipiell sehr positiv zu sehen, dass neun Gemeinden ein gemeinsames Flächenmanagement betreiben. Der Große Forst an der Stelle ist sicherlich ein schmerzlicher Einschnitt. Die Frage ist aber, was ist die Alternative? Gewerbeflächenentwicklung geht uns alle an. Spätestens um drei Ecken herum hängt der Arbeitsplatz eines jeden einzelnen von uns mit irgendwelchen Gewerbegebieten zusammen – was nicht heißt, alles zuzubauen, aber es ist notwendig, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen.