Hakan Turan hält am Mittwoch, 5. April, in der Pauluskirche in Stuttgart-Zuffenhausen einen Vortrag mit dem Titel „Zwischen Neugier und Angst: Der Blick auf die Muslime in Deutschland“. Der Studienrat bildet islamische Religionslehrer für Gymnasien aus.

Stuttgart-Zuffenhausen - Der Stuttgarter Hakan Turan (38) ist Studienrat und bildet islamische Religionslehrer für Gymnasien aus. In seiner wenigen Freizeit betreibt er Koranexegese, also die Interpretation der heiligen Schrift. Am Mittwoch hält er in der Pauluskirche einen Vortrag mit dem Titel „Zwischen Neugier und Angst: Der Blick auf die Muslime in Deutschland“. Ihm ist wichtig, zu zeigen, dass Menschen nicht einfach mit einer Religion konfrontiert sind, sondern mit Personen, und dass man vor Muslimen keine Angst haben müsse.

 
Herr Turan, Ihr Vortrag in der Pauluskirche trägt den Titel „Zwischen Neugier und Angst: Der Blick auf die Muslime in Deutschland. Wo bestehen denn Ängste?
Die Ängste sind umso größer und undifferenzierter, je weniger direkter Kontakt zu Muslimen besteht. Dann steigt die Tendenz, andere Religion als bedrohliches Kollektiv wahrzunehmen. Ich als Moslem habe auch Angst vor bestimmten Ausformungen des Islam, die natürlich nicht das Wesen des Islam ausmachen.
Wie kann man diese Ängste abbauen?
Eine Möglichkeit ist, Menschen persönlich kennen zu lernen. Dann wird man sehen, dass Frauen, die ein Kopftuch tragen, das in den seltensten Fällen tun, um zu provozieren. Vielmehr ist es Teil ihrer Persönlichkeit. Auch Nicht-Kopftuch-Trägerinnen können doch sehr verschieden sein. Zudem muss der Begriff „konservativ“ nicht per se etwas Negatives sein. Das eigentlich Gefährliche ist nicht das Konservative, sondern das Autoritäre. Ein aufgeklärter Konservativer ist umgänglicher als jemand, der sich liberal gibt, aber völlig intolerant ist.
Eine Differenzierung fällt den meisten zunächst in ihrem eigenen Kulturkreis einfacher, wohingegen auf der anderen Seite Stereotype zu sehen, einfacher ist . . .
. . . ja, aber Stereotype sind schon zum Teil wahr. Sie können zunächst einen Teil der Phänomene auf der muslimischen Seite erklären, aber sie können den Großteil der Phänomene nicht erklären. Stellen Sie sich einen muslimischen Schüler vor, der sich Lehrerinnen gegenüber respektlos verhält. Wenn ich jetzt sage, das macht er, weil er dem muslimischen Kulturkreis entstammt, dann habe ich auf den ersten Blick eine Erklärung. Aber das erklärt nicht, warum die meisten muslimischen Schüler nicht respektlos gegenüber ihren Lehrerinnen sind.
Sie beschäftigen sich seit langem mit Koranexegese und teilen Ihre Ergebnisse öffentlich auf Ihrem Blog unter www.blog.andalusian.de mit.
Seit 2008 mache ich meine Gedanken publik. Im kleinen Kämmerlein habe ich das schon länger gemacht. Irgendwann dachte ich, die Themen müssen raus.
Woher kommt bei Ihnen das Interesse an der Interpretation des Korans?
Im Grunde bin ich da nicht selber drauf gestoßen. In der Grundschule kam irgendwann meine Lehrerin mit dem Thema an und wollte im Unterricht Islam und Christentum vergleichen. Sie hatte Koran- und Bibelzitate zur Stellung der Frau dabei. Während es in den Bibelzitaten vor Emanzipation nur so strotzte, ging es in den Koranzitaten nur um Polygamie und Sachen, die ich als gläubiges Kind nicht zuordnen konnte. Meine erste Reaktion war: Nein, so steht das nicht im Koran! Das war der Beginn meiner Beschäftigung mit dem Koran.
Wie finden Sie heute Ihre Themen?
Ich finde meine Themen entweder, wenn ich mich über etwas sehr aufrege oder wenn ich mich über etwas sehr freue, wenn mich also etwas berührt. Deswegen sind sie sehr unterschiedlich. Mal stammen sie aus dem Bereich der Kosmologie und manchmal aus der Theologie. Meist schreibe ich zu strittigen Themen. Ich schreibe gern über die ungeklärten Fragen und die Widersprüche, über die noch nicht viel geschrieben wurde. Ich analysiere das, weil ich auch mir Rechenschaft darüber ablegen muss, warum ich diese Religion schön finde und mich religiös als Moslem definiere.
Was sind denn kritische Themen?
Dass es im Koran durchaus ein Gewaltpotenzial gibt, das aber exegetisch unter Kontrolle gebracht werden kann. Da gibt es unter den Muslimen auch weitgehend Konsens darüber. In der Bibel gibt es auch eine Gewaltthematik, auch das ist exegetisch unter Kontrolle. Aber Menschen, die Gewalt anwenden wollen, die finden immer etwas, womit sie Gewalt rechtfertigen können. Es gilt das Kritische zu erkennen und unter Kontrolle zu bringen. Man kann kritisch sein ohne zu verurteilen oder den Ton zu verschärfen.
Ist es Teil des Problems, dass kaum ein Moslem den Koran lesen kann und die Interpretation nur etwas für wenige Gelehrte ist, deren Wort dann kritiklos übernommen wird?
Kritiklose Übernahme religiöser Meinungen sehe ich als grundsätzliches Problem in der gesamten islamischen Welt. Dennoch kann ein Großteil der Gewalt in der Praxis nicht allein darauf zurückgeführt werden, da für die Gewalt die psychologischen, sozialen und politische Faktoren Ausschlag gebend sind. Darum ist das Problem nicht schon gelöst, wenn junge Muslime den Koran auslegen lernen. Vielmehr bedarf es positiver Lebensperspektiven in Würde und guter Vorbilder. Koranübersetzungen gibt es übrigens schon seit vielen Jahrhunderten überall in der islamischen Welt.
Welche Verantwortung liegt bei der deutschen oder vielmehr nicht-muslimischen Gesellschaft?
Sie besteht in der prinzipiellen Bereitschaft zu differenzieren. Dazu gehört, dass ich bereit bin, mein muslimisches Gegenüber als Individuum anzuerkennen und nicht als Vertreter eines Kollektivs. Ein verallgemeinernder Ton führt auf muslimischer Seite zu einem Verlust des Gefühls der Individualität und zu Verteidigungsreflexen.
Wie äußert sich das?
Seit dem 11. September fühlen sich selbst viele säkulare Muslime als Vertreter des Islam, weil sie von ihren deutschen Kollegen teilweise so behandelt werden. Weil sie mit Fragen zu Dingen konfrontiert werden, von denen sie gar nichts wissen können, das geht schon Schülern so. Wenn Kinder Fragen beantworten sollen, die nicht einmal Erwachsene beantworten können. Ich würde bei dieser Alltagskommunikation ansetzen. Weg mit dieser Angst, dass die Leute uns was Böses wollen. Das Wichtigste, was die deutsche Gesellschaft tun könnte, ist zu signalisieren: Ihr gehört hier her.