Die Notaufnahmen der Kliniken werden derzeit regelrecht von Patienten überrannt, die dort eigentlich nicht hingehören. Der Ärztegewerkschafter Frank Joachim Reuther über überängstliche Patienten und überforderte Assistenzärzte.

Stuttgart - Die Notaufnahmen der Krankenhäuser auch im Südwesten werden derzeit regelrecht von Patienten überrannt, die dort eigentlich nicht hingehören. Darüber sprachen wir mit Frank Joachim Reuther, dem Landesvorsitzendes des Marburger Bunds.

 
Herr Reuther, die Notaufnahmen der Kliniken erleben einen nie gekannten Ansturm. Was steckt dahinter?
Früher hat man tagsüber bis 18 Uhr beim Einzelhändler eingekauft. Es gab ja auch kein anderes Angebot. Heute kann man online rund um die Uhr shoppen. Die Ansprüche an Serviceleistungen haben sich stark verändert – und Medizin ist letztlich auch eine Serviceleistung. Verändert haben sich aber auch die Ansprüche an den einzelnen Menschen.
Inwiefern?
Viele stehen im Job unter großem Druck. Mancher glaubt, es sich nicht leisten zu können, den Vormittag in der Arztpraxis zu verbringen.
Also geht er lieber abends in die Notaufnahme, auch wenn das ebenfalls stundenlang dauert?
Ja, das scheint mir ein wichtiger Beweggrund zu sein. Der Weg über Haus- und Facharzt in der Niederlassung dauert ja auch. Der Hausarzt hat vielleicht nächste Woche Zeit, um dann zum Spezialisten zu überweisen. Dort bekommen man einen Termin in sechs Wochen, wenn man Glück hat. Viele gehen da lieber in die Klinik, weil sie wissen, dass dort selbst abends alle Disziplinen beisammen sind.
Vertreten von häufig ganz unerfahrenen Assistenten.
Richtig, aber das wissen die Leute nicht.
Ist diese völlig ungesteuerte und teure Inanspruchnahme von Leistungen nicht ein Missbrauch unseres Gesundheitssystems, den es zu unterbinden gilt?
Ich sehe das nicht als Missbrauch. Die Leute gehen ja nicht in die Notaufnahme, um Ärzte zu ärgern oder Alternativen zum TV-Programm zu haben. Sie können oft nicht selbst abschätzen, ob und welche Hilfe sie brauchen. Dann schauen sie ins Internet und fühlen sich hinterher erst recht schlecht. Diese Verunsicherung spielt auch eine große Rolle.
Haben Sie Beispiele?
Die Bandbreite ist groß. Es gibt tatsächlich Patienten, die stellen ihren Wespenstich in den Finger abends um 22 Uhr vor, weil sie eine Schockreaktion ihres Körpers fürchten. Wenn da ein junger Kollege Dienst hat und unsicher ist, kann es sein, dass er noch einen Neurologen dazu bestellt. Aber natürlich kommen auch Patienten mit Schlaganfall, die sich erst einmal in den Wartebereich setzen. Da schlagen sie dann die Hände über dem Kopf zusammen.
Viele Leute wissen offenbar nicht mehr, wie das Gesundheitssystem aufgebaut ist?
Was sollen wir tun – den Menschen beibringen, wie sie sich zu verhalten haben? Wohl kaum. Die Leute gucken eben nicht ins Sozialgesetzbuch, wenn sie sich krank fühlen. Früher war es vielleicht auch einfacher. Jeder hatte einen Hausarzt, der sich gekümmert hat. Diese Bezugsperson haben viele Menschen nicht mehr, etwa durch beruflich bedingte Ortswechsel. Da liegt das Krankenhaus nahe. Vielleicht spielen auch die vielen Krankenhausserien im TV eine Rolle.
Wie schafft man Abhilfe?
Ich habe leider auch keine Lösung. Daran müssen alle Beteiligten arbeiten, Politik, Krankenkassen, Kassenärzte und Kliniken. Natürlich wäre es ideal, wenn es an jedem Krankenhaus eine Notfallpraxis der Kassenärzte geben würde, mit einem erfahrenen Hausarzt. Der wäre dann für alle leichten Fälle zuständig, nur die schwereren kämen an ihm vorbei und gelangten in die Notaufnahme des Krankenhauses. Aber flächendeckende Notfallpraxen wird es nicht geben. Und selbst wo es sie gibt, müssen die Patienten ja erst einmal hinfinden. Und dann schließen sie in der Regel ja auch um 22 Uhr.
Und danach ist fortschicken keine Alternative?
Keinesfalls. Sie wissen ja nicht, was dem Patienten fehlt, deshalb müssen sie ihn anschauen. Es könnte ja auch um Leben und Tod gehen.