Autor und Filmemacher Alexander Kluge hält den Streit um den Intendanten-Wechsel an der Berliner Volksbühne für übertrieben: „Wenn sich die Aufregung gelegt hat, wird man die intellektuelle Nähe zwischen Chris Dercon und Frank Castorf erkennen“, sagt er im StZ-Interview.

Stuttgart – - Schon lange ist das kulturelle Berlin nicht mehr so erschüttert worden wie jetzt von dieser Theaterpersonalie: Chris Dercon, derzeit noch Leiter des Londoner Museums Tate Modern, übernimmt 2017 als Nachfolger von Frank Castorf die Berliner Volksbühne. Er werde das Traditionshaus zur „Eventbude“ runterwirtschaften, so die Befürchtungen. Dercon tritt mit einem fünfköpfigen internationalen Team an, zu dem auch der vielfach ausgezeichnete, in München lebende Autor und Filmemacher Alexander Kluge gehört. „Ich halte die Berliner Aufregung für übertrieben“, sagt der 83-jährige Intellektuelle im StZ-Gespräch.
Herr Kluge, selbst für kundige Beobachter ist die Nachricht überraschend gekommen: Sie gehören in führender Position ab 2017 der neuen Berliner Volksbühne an.
Ja, stimmt, aber es stimmt nur halb. Die Meldungen der vergangenen Tage führen etwas in die Irre: Auf der Bühne selbst werde ich mit keiner Inszenierung vertreten sein. Ich bin kein Theaterregisseur, sondern bleibe Autor und Filmemacher. Allerdings werde ich dem Intendanten Chris Dercon als Berater und Begleiter zur Seite stehen und die Arbeit seines künstlerischen Teams bei Gelegenheit mit Bewegtbildern unterstützen. Nicht mehr und nicht weniger. Unterm Strich aber spiele ich in den Strukturen der neuen Volksbühne eine absolute Nebenrolle.
Und wie kam’s zu dieser Rolle?
Mit den Akteuren der Berliner Volksbühne arbeite ich seit Jahren eng zusammen, mit den alten sowieso, aber auch mit den neuen, die in zwei Jahren kommen werden. Chris Dercon kenne ich seit seiner Münchner Zeit als Direktor des Hauses der Kunst. Er war Teil eines künstlerischen Vielecks, zu dem auch Christoph Schlingensief von der Volksbühne und eben ich selbst gehörten. Ich schätze Dercon sehr, allerdings schätze ich den amtierenden Intendanten Frank Castorf nicht minder: Als künstlerisch-politischer Kopf ist er von hoher Einzigartigkeit.
Wie äußert sich Ihre Wertschätzung von Frank Castorf konkret?
Ich nähere mich der Bühnenkunst seit je über die Oper an. Und da kommt mir seine Volksbühne sehr entgegen: Für mich ist sie, neben der Staatsoper, der Deutschen Oper und der Komischen Oper, das vierte Opernhaus in Berlin.
Wie das?
In der Volksbühne wird häufig musikalisch inszeniert, oft an der Grenze zur Oper und dabei auch besser als in der Oper: Castorf hat in seinem Haus beispielsweise die „Meistersinger von Nürnberg“ rausgebracht, nicht mit einem 196-köpfigen Orchester, wie das in Bayreuth der Fall ist, sondern in skelettartiger Besetzung mit 13 Musikern, dazu noch Schauspieler und Sänger – mit dem Effekt, dass er Wagner via Reduktion und Dekonstruktion als genialen Kammermusiker vorführt. Castorfs Ästhetik liegt mir nahe, weshalb ich mit ihm, nicht anders als mit Dercon, gerne auch künftig zusammenarbeiten möchte.
Sind Sie vom künftigen Intendanten gar als Traditionsbewahrer eingekauft worden?
Ich bin überhaupt nicht eingekauft worden. Ich berate Chris Dercon und arbeite mit ihm zusammen. Wenn ich kann, fungiere ich dabei aber als eine Art Theatergedächtnis. Dabei hilft mir, dass ich über die Jahre hinweg etwa dreißig Castorf-Inszenierungen in meinen Kulturmagazinen festgehalten habe, Produktionen in Basel, in Hamburg und vor allem eben in Berlin. Auf dieser filmischen Grundlage plane ich auch meinen ersten Beitrag für die neue Intendanz: eine große Castorf-Retrospektive im Babylon-Kino, in unmittelbarer Nachbarschaft zur Volksbühne – wenn möglich, lange vor dem umstrittenen Intendantenwechsel.
Das klingt nach einer Verbeugung vor Castorf – und nicht so, als wolle Dercon radikal mit der Ästhetik des Vorgängers brechen.
Das will er auch nicht. Sobald sich die Aufregung um die Personalie gelegt hat, wird man die intellektuelle Nähe zwischen den beiden Geistern erkennen.