In der gegenwärtigen Diskussion wird Demokratie stark mit einer Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit, ja sozialer Gleichheit verknüpft. Wie war das in Athen?
Von sozialer Gleichheit oder einem Streben danach kann man nicht sprechen. Wohl aber von einer politischen Gleichheit, denn alle Bürger hatten auf der Agora das gleiche Stimmrecht. Wir sollten aber nicht vergessen, dass zur stimmberechtigten Bürgerschaft Attikas nur ein Teil der Bevölkerung zählte. Sklaven und Frauen gehörten ohnehin nicht dazu. Aber auch die Zuwanderer konnten kein Bürgerrecht erwerben. Bürger Athens war man, wenn man väterlicherseits von Athenern abstammte, in der Regel von solchen, die einst Bodenbesitzer gewesen waren. Zuwanderer waren willkommen. Sie mussten jedoch, anders als die attischen Bürger, Steuern zahlen und durften kein Land erwerben, selbst wenn sie sehr reich waren. Unsere heutige Vorstellung, Migranten als Staatsbürger in die Gemeinschaft zu integrieren, ist ganz und gar ungriechisch. Je demokratischer man war, umso eifersüchtiger hütete man sein Bürgerrecht.

Der Umgang mit Migranten gehört also nicht zum Erbe der griechischen Demokratie in der modernen Gesellschaft. Was bleibt uns Heutigen dann von der attischen Verfassung?
So gut wie nichts. Fast alles hat sich geändert. In einem weiteren Sinne kann man die Aufklärung, und damit die Grundlage der modernen Demokratie, als ein Erbe der griechischen Philosophie bezeichnen. Europa hat von Griechenland gelernt, kritische Fragen zu stellen. Unsere heutigen Demokratievorstellungen sind aber viel stärker von der römischen Mischverfassung beeinflusst als von der attischen Volksherrschaft. Hinzu kommt: die griechischen Quellen, die durch die philosophische Rezeption im christlichen Mittelalter über Jahrhunderte großen Einfluss auf das europäische Denken ausübten, stammen aus der Feder von Angehörigen der Oberschicht. Diese haben sich oft demokratiekritisch geäußert, weil sie ihren Interessen gemäß einer oligarchischen Verfassung zuneigten. Diese Position wog lange Zeit schwerer als die positive Haltung gegenüber der Demokratie. Als Ideal kehrt die Demokratie erst im 20. Jahrhundert in das politische Denken Europas zurück.

Was können wir also im 21. Jahrhundert von den antiken Griechen in puncto Demokratie lernen?
Über diese Frage habe ich lange nachgedacht. Meine Antwort wird Sie vermutlich enttäuschen: Ich glaube, wir können in dieser Hinsicht fast nichts von den Athenern lernen. Unsere Gesellschaft unterscheidet sich zu sehr von den Verhältnissen im antiken Griechenland. Es fragt sich ja, ob „Demokratie“ heute überhaupt etwas Wirkliches bezeichnet. Vielleicht kann man aber hier einen Anstoß für etwas stets Aktuelles beziehen: dass Staat nichts für sich ist. Dass wir alle ihn ausmachen. Und dass das Volk nicht so dumm ist, wie die Altertumswissenschaftler es gern für Athen annehmen – und wie heute jene glauben, die sagen, wichtige Dinge dürften nicht Thema eines Wahlkampfes werden. Die Athener haben gewiss Fehler gemacht, einmal auch eine ganze Reihe. Aber wer sagt uns, dass Politiker das heute nicht machen?